„Ein China, zwei Staaten“
Am 9. Juli 1999 hatte Günter Knabe, damals Leiter der Asienprogramme, den taiwanischen Präsidenten Lee Teng-hui, in Taipeh interviewt und ihm zu den gespannten Beziehungen zwischen der VR China und Taiwan die Erklärung entlockt, das seien „besondere Staat-zu-Staat-Beziehungen“. Damit hatte Lee eine politische Bombe gezündet. Denn seine Formulierung lag hart an der Grenze zu einer Unabhängigkeitserklärung. Wir dokumentieren das Interview im Wortlaut:
Herr Präsident, Taiwans Wirtschaft ist eine weltweit bewunderte wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Ein anderer Erfolg war in den letzten Jahren Taiwans eindrucksvoller Fortschritt, eine wirkliche Demokratie zu sein. Aber Sie werden von Pekings Regierung als eine „abtrünnige Provinz“ betrachtet. Das ist eine Ursache ständiger Spannung und von Drohungen vom Festland gegen Ihre Insel. Wie kommen Sie mit diesen Gefahren zurecht?
Lee Teng-hui: Die historische Realität ist, dass die Volksrepublik China nach ihrer Gründung 1949 niemals die Herrschaft über Taiwan, die Pescadoren-Inselgruppe, Quemoy und Matsu ausgeübt hat, Gebiete die der Verwaltungskontrolle der Republik China unterstehen. Seit der Verfassungsänderung von 1991 sind die Beziehungen über die Straße von Taiwan hinweg als Beziehung zwischen Staaten definiert, mindestens aber als Beziehung besonderer Art zwischen Staaten. Es gibt also nicht eine legale Regierung und eine Rebellenclique oder eine interne Beziehung zwischen einer Zentralregierung und einer Regionalregierung innerhalb des einen Chinas. Es entspricht deshalb weder der historischen noch rechtlichen Realität, wenn Taiwan – wie die Regierung in Peking als „abtrünnige Provinz“ bezeichnet wird. Angesichts der Entwicklung der Lage in der Taiwan-Straße treiben wir auch weiterhin den bilateralen Austausch voran, fördern in positiver Weise den gegenseitigen Dialog und Verhandlungen, intensivieren außerdem die Verbesserung unseres demokratischen Systems und streben nach einem stabilen Wirtschaftswachstum.
Wir sind der Auffassung, dass aus dem Austausch heraus gegenseitiges Vertrauen erwachsen kann und dass aus dem gegenseitigen Vertrauen stabile Beziehungen aufgebaut werden können. Das ist die effektivste Weise, um eine Krise zu vermeiden. Taiwan und das chinesische Festland sollten für beide Seiten gewinnbringende Beziehungen des gegenseitigen Vorteils und Nutzen aufbauen.
Taiwan zu einem unabhängigen Staat zu erklären, scheint keine realistische Option zu sein. Pekings „Modell Ein Land – Zwei Systeme“ ist für die Mehrheit der Menschen in Taiwan nicht akzeptabel. Gibt es irgendeinen Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen? Und, wenn es ihn gibt, wie sieht der aus?
Zur Lösung der bilateralen kann man nicht einfach nur die Standpunkte „Wiedervereinigung oder Unabhängigkeit“ diskutieren, denn der Kernpunkt liegt in der Unterschiedlichkeit der „Systeme“. Von der Angleichung der Systeme aus kann man schrittweise eine politische Vereinigung in Angriff nehmen. Wir möchten den Status Quo beibehalten und auf der Basis des Status Quo mit Festlandchina eine friedliche Lage aufrechterhalten.
Die Behandlung Hongkongs seit seiner Rückgabe durch die Britten im Sommer 1997 als ein Sonderverwaltungsgebiet und die Zukunft Macaos nach seiner Übergabe von den Portugiesen im Dezember diesen Jahres könne von der Volksrepublik China als eine Generalprobe für die friedliche Übernahme Taiwans eines Tages betrachtet werden. Ist dies für die übrige Welt auch ein verlockendes Konzept? Schließlich würde man ein chinesisches Problem loswerden, dass ansonsten eine ständige Gefahr darstellt – zumindest in Ihrer Region.
Der wahre Grund für den Einfluss der China-Frage auf die Sicherheit in dieser Region liegt nicht in der Rückgabe Hongkongs, Macaos oder Taiwans an China. Die Republik Chinas ist auf Taiwan keine Kolonie irgendeines Landes und darin unterscheidet sich Taiwan auch von Hongkong und Macao. Der Kern des Problems ist, dass das chinesische Festland den Nationalismus betont und bei seinem System keine Demokratisierung vollzogen hat. Das Festland hat uns nicht nur verbal attackiert und mit Gewalt einzuschüchtern versucht, sondern hat auch nie auf die Option der Gewaltanwendung gegen Taiwan verzichtet. International unterdrücken sie uns, wo sie nur können.
Das Modell „Ein Land – Zwei Systeme“, welches das Festland Hongkong und Macao versprochen hat, hat auf Taiwan nicht die geringste Anziehungskraft. Der Hauptgrund dafür ist, dass „Ein Land - Zwei Systeme“ ein Widerspruch in sich ist. Es widerspricht den demokratischen Grundprinzipien und leugnet außerdem die Existenz der Republik China.
Wenn alles schiefgeht und die Spannungen auf beiden Seiten der Straße zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland außer Kontrolle geraten und es zu militärischen Aktionen kommt: worauf und auf wen – abgesehen von den Taiwanesen selbst – würden Sie sich in einem solchen Krieg für ihre Verteidigung verlassen?
Wir betonen, dass die bilateralen Problem nur auf friedliche Weise gelöst werden sollen und nicht mit Gewalt. Das ist das Ziel, das wir immer energisch verfolgt haben und unser Standpunkt, an dem wir festhalten. Außerdem ist die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft. Die internationale Gemeinschaft sollte dafür sorgen, dass Festland-China auf die Anwendung von Gewalt gegenüber Taiwan verzichtet, den Konflikt mit friedlichen Mitteln löst, damit wir gemeinsam die Stabilität der Region schützen.
Außer der untrennbaren Beziehung zwischen der Stärkung der Stabilität in der Taiwan-Straße und des Friedens in der asiatisch-pazifischen Region legt unser Land auch sehr großes Gewicht auf die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika. In den letzten Jahren haben die USA Taiwan immer mit den zur Verteidigung notwendigen militärischen Ausrüstungen versorgt und der Austausch der beiden Länder in Wirtschaft, Kultur und Technologie hat sich auch stetig vergrößert. Auf absehbare Zeit werden die Beziehungen einer Sicherheitszusammenarbeit zwischen Taiwan und den USA weiterhin einer der wichtigsten Faktoren sein, die die Stabilität in der Taiwan-Straße gewährleisten.
Die Vereinigten Staaten von Amerika und andere westliche Länder werden angezogen von vermuteten riesigen Märkten in der Volksrepublik China. Das wird ihre Unterstützung für Taiwans politische Position unvermeidlich verringern. Bedeutet dies nicht düstere Aussichten für Taiwans Zukunft?
Wir haben Verständnis dafür, das in den letzten Jahren die Länder der Welt aus Erwägung des Eigennutzes heraus die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit dem chinesischen Festland verstärkt und ausgebaut haben. Die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Taiwan und den USA sowie anderen westlichen Staaten sind aber auch sehr eng, das ist nicht zu übersehen. Gegenüber den Ungewissheiten des chinesischen Festlandes verläuft die Entwicklung Taiwans recht gesund und stabil. Taiwans Bedeutung liegt in zwei Bereichen: Zum einen in der Wahrung von Demokratie und Menschenrechten, zum anderen in der strategisch wichtigen Position im Westpazifik. Heutzutage wird allgemein auf Demokratie und Menschenrechte großen Wert gelegt. Bei en Hoffnungen gegenüber dem Festland ist das auch der Fall. Außerdem kontrolliert Taiwan durch seine geografische Lage den Seeverkehr im Westpazifik. Das ist für die USA, Japan und die Staaten Südostasiens von großer Bedeutung. Deshalb spielt Taiwan zweifellos in den Beziehungen über die Taiwan-Straße hinweg oder bei der regionalen Stabilität eine wichtige Rolle.
Trotz des tiefen politischen Grabens zwischen Taipeh und Peking ist Taiwans Wirtschaft stark in der Wirtschaft der Volksrepublik China engagiert. mit Investitionen im Wert von mehr als 25Millarden US-Dollar. So auf dem Festland eingebunden zu sein setzt Taiwan wirtschaftlicher Erpressung durch Peking aus. Wie könnten Sie einen solchen Schritt der Pekinger Führung überhaupt verhindern?
Ein grundlegender Punkt ist, dass die Wirtschaft Taiwans und die des Festlandes nicht in einem Konkurrenz Verhältnis stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Ich habe einmal angeregt, dass die Beziehungen über die Taiwan-Straße der politischen Richtlinie „Eile mit Weile, mit Standhaftigkeit kommt man weiter“ folgen sollten. Großinvestitionen mit einem Umfang über 50 Millionen US-Dollar müssen noch vorsichtiger beurteilt werden. Wir hoffen, dass die Unternehmen „in Taiwan verwurzelt“ bleiben und damit Taiwans Wirtschaftsentwicklung stärken.
Die Volksrepublik China ringt mit einer Menge ernsthafter wirtschaftlicher und sozialer Probleme, wie zum Beispiel steigende Zahlen von Arbeitslosen und schrumpfenden Devisenreserven. Die Pekinger Regierung könnte sich gezwungen fühlen, die chinesische Währung, den Yuan, abzuwerten, um größere wirtschaftliche Schwierigkeiten und in der Folge soziale Unruhen zu vermeiden. Würde eine solche Abwertung des Yuan nicht einen sehr schweren wirtschaftlichen Rückschlag für Taiwan verursachen?
Weil auf dem chinesischen Festland die Devisen noch einer strengeren Kontrolle unterliegen, dürfte eine Abwertung des Renminbi wohl nicht zu unkontrollierten Phänomenen führen, denn die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sind Beziehungen des gegenseitigen Unterstützung und nicht der Konkurrenz. Obwohl durch eine Abwertung des Renminbi , manche Festland-chinesischen Produkte billiger würden und taiwanesischen Produkten dadurch Konkurrenz machten, würde aber im großen und ganzen nach einer Zunahme der Festland-chinesischen Exporte die Nachfrage nach taiwanesischen Zwischenprodukten ebenfalls ansteigen. Deshalb dürfte der Einfluss auf unsere Exporte nicht allzu bedeutend sein. Es gibt aber eine Frage, die Grund zur Sorge bereitet, nämlich ob eine Abwertung des Renminbi die Finanzen der taiwanesischen Geschäftsleute auf dem Festland und somit auch Taiwan beeinflussen kann. Darauf sind wir voll vorbereitet.
Hoffen Sie immer noch darauf, Unterseeboote und andere in Deutschland hergestellte militärische Ausrüstung zu erwerben?
Diese Frage haben wir mit der Regierung Ihres Landes schon lange diskutiert. Die Regierung Ihres Landes denkt aber auch an die Festland-chinesische Haltung und hat es daher nie gewagt, den Verkauf von U-Booten an uns zu genehmigen. Gleichzeitig ist die Verteidigungstaktik eines U-Boot-Krieges recht beschwerlich. Ob sie in ausreichendem Maße ihre Wirkung entfalten kann, muss noch einmal überdacht werden.
Das Interview führte Günter Knabe am 9. Juli 1999.