Exklusiv-Interview der DW mit Bundeskanzlerin Angela Merkel
Die Kanzlerin sagte, sie sei in ihren letzten Amtstagen „froh auf der einen Seite. Aber ein kleines bisschen Wehmut wird sicherlich dann auch kommen, denn ich habe meine Arbeit immer gern gemacht, mache sie auch noch gern. Und bis zum letzten Amtstag muss man natürlich auch weiter aufmerksam sein.“
Die Zukunft der Erde
„Nach meiner langjährigen Erfahrung mit dem Klimawandel muss ich sagen: Wir haben immer wieder einiges getan. Es ist [in Glasgow] die 26. Vertragsstaaten-Konferenz, trotzdem sind die Berichte des Klimarates, des IPCC, immer warnender und immer bedrohlicher geworden.“
2007 sei ihr erster G8-Gipfel in Heiligendamm gelobt worden, weil Präsident George W. Bush sich für eine Halbierung des CO2-Ausstoßes der USA bis 2050 ausgesprochen habe. Merkel: „Heute wissen wir, dass das damals schon ein ehrenwertes Ziel war, aber vorne und hinten nicht reicht. (…) Das zeigt jeder IPCC-Bericht. Und da sage ich den jungen Leuten, sie müssen Druck machen, und wir müssen schneller werden. Wir sind schneller geworden. Aber nie war es so, dass nicht der Abstand zu den wissenschaftlichen Einschätzungen noch mal gewachsen ist. Und das muss sich jetzt in diesem Jahrzehnt verändern. Wir müssen wieder den wissenschaftlichen Einschätzungen folgen, und das heißt eben sehr nah bei 1,5 Grad Erderwärmung bleiben. Glasgow hat schon einige Ergebnisse gebracht, aber aus der Perspektive junger Leute geht es berechtigterweise immer noch zu langsam.“
Mit Blick auf ihr persönliches klimapolitisches Engagement sagte die Kanzlerin: „Ich war eigentlich immer dran. Und trotzdem kann ich heute nicht sagen, das Ergebnis ist schon befriedigend.“ Der deutsche Fahrplan für den Ausstieg aus der Steinkohle stehe zwar, es gebe aber dennoch Kritik am Tempo. Im internationalen Vergleich sei Deutschland „natürlich nicht ganz schlecht“, so Merkel.
16 Jahre Krisenmanagement
Persönlich am stärksten gefordert hätten sie die Ankunft der Flüchtlinge 2015, die „ich ja ungern als Krise bezeichne“, und die Corona-Pandemie, sagte Merkel. Das seien Ereignisse, „wo man gesehen hat, wie das die Menschen direkt betrifft, wo man es mit menschlichen Schicksalen zu tun hat. Das war für mich schon das Herausforderndste.“
„Ja, wir haben das geschafft“, sagte die Kanzlerin mit Blick auf ihre berühmte „Wir schaffen das”-Aussage aus dem Jahr 2015. Merkel weiter: „Wir waren wirklich viele, viele Menschen in Deutschland, die mit angepackt haben, viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, viele Ehrenamtliche, viele, die heute noch Patenschaften haben. Wir haben auch erlebt, dass natürlich nicht alles ideal gelaufen ist. Und es gibt auch schlimme Vorfälle, wenn ich an die Kölner Silvesternacht denke. Aber insgesamt haben wir wunderbare Beispiele von gelungenen menschlichen Entwicklungen, wenn ich an Abiturientinnen und Abiturienten und Ähnliches denke.“
Merkel fügte hinzu: „Geschafft haben wir natürlich noch nicht, dass die Ursachen der Flucht bekämpft wurden. Wir haben es noch nicht geschafft, dass Europa ein einheitliches Asyl- und Migrationssystem hat. Wir haben also noch keine selbstwirkende Balance zwischen den Herkunftsländern und den Ankunftsländern. Und wir müssen noch sehr viel mehr machen an Entwicklungshilfe, an legaler Migration.“ Schlepper und Schleuser hätten „immer noch die Oberhand“.
Zu Afghanistan sagte Merkel, „dass wir natürlich sehr traurig sind und einfach nicht geschafft haben, was wir wollten: nämlich in Afghanistan eine selbst tragende politische Ordnung zu finden, in der Mädchen in die Schule gehen können, in der Frauen sich ihre Wünsche erfüllen können, in der Frieden herrscht, sondern wir haben lange Jahre dort unseren Einsatz gezeigt, unsere Soldatinnen und Soldaten mit bester Kraft. (…) Und trotzdem muss man akzeptieren: So gut die Absichten waren, wir haben es nicht vermocht, diese Ordnung, die wir uns gewünscht haben, die Joschka Fischer schon gleich Anfang des Jahrhunderts schaffen wollte, für Afghanistan zu schaffen. Daran ist Deutschland nicht allein schuld. Die Afghanen haben es auch nicht vermocht, und das ist einfach sehr, sehr bedauerlich.“
„Sehr, sehr viele Ortskräfte“ seien evakuiert worden, der größte Teil der noch in Afghanistan Verbliebenen seien Mitarbeitende aus der Entwicklungshilfe. Merkel: „Wir glauben nicht daran, dass man die Taliban besiegen kann. Und jetzt müssen wir so viele wie möglich [dieser Entwicklungshelferinnen und -helfer] außer Landes bringen.“ Deutschland habe vielen Afghaninnen und Afghanen geholfen, die sich für die Freiheit und die Demokratie in Afghanistan engagiert haben. Auch solche Menschen ohne direkten Bezug zu Deutschland „werden wir nicht vergessen“, so Merkel.
Ihr persönliches Interesse an Afrika habe sich „ein bisschen von Ostafrika verschoben auf Westafrika“. Grund für den neuen Fokus seien nicht nur das Thema Flucht, sondern die terroristischen Herausforderungen in Libyen, Merkel zufolge „ein Riesenproblem der internationalen Staatengemeinschaft“, das die südlichen Nachbarländer Libyens „ausbaden müssen“. Hochbewaffnete Terrororganisationen destabilisierten die Region, so Merkel.
„Ich habe mich immer auch um etwas anderes bemüht, was man vielleicht auch fast schon als Krise bezeichnen kann, nämlich die Infragestellung des Multilateralismus. Ich habe immer versucht, die internationalen Organisationen zu stärken, den IWF, die Weltbank, die Welthandelsorganisation und andere. Die habe ich jedes Jahr eingeladen (…) und versucht, deutlich zu machen: ,Wir müssen zusammenarbeiten auf der Welt.‘ Und in meiner Zeit sind ja nach der Finanzkrise die G20 entstanden. Auch ein ganz wichtiges Format aus meiner Sicht, um zu zeigen: ,Nur gemeinsam können wir die Probleme lösen.‘“
Beziehungen zu anderen Regierungschefs
„Ich werde Emmanuel Macron vermissen. Ich werde viele meiner Kolleginnen und Kollegen vermissen, weil ich mit sehr, sehr vielen sehr gern zusammengearbeitet habe,“ sagte Merkel. Internationale Politik bedeute, viel miteinander zu sprechen, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen. Frankreich und Deutschland „haben ja doch immer sehr unterschiedliche Probleme, manchmal auch gemeinsame Probleme. Und aus der Perspektive haben wir dann auch die europäischen Schritte miteinander besprochen. Diese Diskussion werde ich mit Sicherheit vermissen“, sagte die Bundeskanzlerin.
Die „Vive Mutti“-Rufe während ihres Abschiedsbesuchs in Frankreich hätten sie gefreut, sagte Merkel und fügte hinzu: „Ich weiß schon, dass es auch Menschen gibt, die mit meiner Politik nicht so zufrieden sind.“
Es wäre ein „Missverständnis, wenn ich bei Gesprächen mit freundschaftlich verbundenen Regierungschefs nicht auch klare Kante zeige. Wir haben ja immer auch deutsche Interessen. Die anderen haben französische oder andere Interessen, und hier müssen wir versuchen, die zusammenzubringen. Aber was uns eint ist natürlich eine gemeinsame Wertebasis, eine gemeinsame Sicht auf die Demokratie“, so Merkel.
Sie gehe „immer mit offenem Herzen in solche Gespräche“, sagte Merkel. „Ich will allerdings auch sagen: Wenn jemand eine ganz andere Sicht auf die Welt hat, sollte man trotzdem zuhören. Denn wenn wir uns nicht mehr zuhören, werden wir auch keine Lösungen mehr finden.“
Dass die Kanzlerin Finanzminister Scholz zu ihrem letzten G20-Treffen in Rom mitnahm, sei weniger „großzügig“ als vielmehr üblich gewesen, sagte Merkel. „Zum Gipfel fahren immer die Regierungschefs und die Finanzminister. Und nun will es der Zufall, dass mein wahrscheinlicher Nachfolger der Finanzminister der jetzigen Regierung ist. Das heißt, dass er an G20 teilgenommen hat, das war einfach klar. Die Geste, die mir wichtig war, war, dass bei allen bilateralen Gesprächen auch Olaf Scholz mit dabei ist. (…) Wenn die Leute das Gefühl haben, hier gibt es einen guten Kontakt zwischen der jetzigen Regierungschefin und dem wahrscheinlich zukünftigen, dann ist das ein beruhigendes Signal in eine ziemlich turbulente Welt.“
Kompromissbereitschaft in Konfliktsituationen
Zur Bezeichnung „Kompromissmaschine“ des luxemburgischen Premierministers Xavier Bettel sagte Merkel, Bettel wisse, „ dass ich natürlich keine Maschine bin, sondern wie er ein Mensch. Aber ich habe mich eben immer um Kompromisse bemüht, auch wenn es lange gedauert hat. Wir haben meistens auch welche gefunden.“
Merkel weiter: „Ich durfte die erste [von mittlerweile 26 Klimakonferenzen] in Bonn leiten. Da war ich ganz junge Umweltministerin, und damals hat sich mir die Welt eröffnet mit den vielen Mitgliedsstaaten der Klimarahmenkonvention. Da einen Kompromiss zu finden, die Konflikte zu überwinden, war schon eine besonders herausfordernde Sache, und die hat mich nie wieder verlassen“, sagte Merkel.
Sie bezeichnete es als „eine kleine Kunst“ in der Politik, „sich nicht zu viel im Vorhinein vorzunehmen und zuzusagen, um dann zum Schluss wieder absagen zu müssen. Das schafft schlechte Laune bei mir. Das schafft aber auch schlechte Laune bei denen, denen man schon mal zugesagt hat.“ Es habe ihr Energie gegeben, das Tagesmaß zu erfüllen.
Keine konkreten persönlichen Zukunftspläne
Ihre Arbeit mache ihr „wirklich Freude“ und sie sei „immer schon ein neugieriger Mensch“ gewesen, so die Kanzlerin. Nach Ende ihrer Amtszeit stünden zunächst „Lesen und Schlafen im Wechsel“ an, erklärte Merkel: „Es ist einfach so, dass ich doch jetzt viele Jahre sehr okkupiert war von der Agenda, die mir vorgegeben wurde, auch immer in Bereitschaft sein musste. Das müssen Sie ja als Regierungschefin. Und jetzt gucke ich mal, was ich freiwillig gern machen werde. Das wird sich aber erst in ein paar Monaten herausstellen.“
Fest stehe lediglich: „Ich werde danach keine Politik mehr machen. Ich werde jetzt nicht Konfliktlöserin für politische Konflikte sein, das habe ich viele Jahre gemacht – 16 Jahre als Bundeskanzlerin, auch gerne in der Europäischen Union, international, habe mich immer für den Multilateralismus eingesetzt, und jetzt weiß ich noch nicht, was ich danach mache.“