Über 1.300 Tote bei Hadsch: Aufarbeitung einer Tragödie
26. Juni 2024"Er starb auf dem Berg Arafat", erzählte Amr Hilal, der für ein ägyptisches Reisebüro arbeitet, vom Schicksal eines Verwandten. Dieser hatte sich mit einem normalen Touristenvisum auf den Weg zur Hadsch in Saudi-Arabien gemacht, einer der größten religiösen Versammlungen der Welt. Jeder Muslim sollte sie - wenn möglich - sie mindestens einmal im Leben absolvieren. "Er war alt und aus meinem Dorf, und er war allein auf der Hadsch und wurde von keinem seiner Verwandten begleitet", erklärte Hilal der DW. Nach seinem Tod kam er ins Krankenhaus, wo er auch gewaschen wurde. Begraben wurde der Mann schließlich in Saudi-Arabien.
Am Straßenrand zusammengebrochen, im Rollstuhl in sich gesackt: Die Bilder von kollabierten Menschen während der Hadsch in Saudi-Arabien überschwemmten die sozialen Netzwerke weltweit. Über 1300 Menschen starben bei der muslimischen Pilgerfahrt, wie Anfang der Woche nun auch von Behörden vor Ort bestätigt wurde. Die meisten von ihnen (83 Prozent) waren unregistrierte Pilger, die mit einem normalen Touristenvisum eingereist waren - um Geld oder Zeit zu sparen. Ein spezielles Pilgervisum können sich viele nicht leisten.
Besonders viele stammten offenbar aus Ägypten, arabische Diplomaten sprachen gegenüber der Nachrichtenagentur AFP von 658 Toten, 630 von ihnen waren nicht offiziell registriert. Auch Indonesien, Indien, Jordanien, Malaysia, der Senegal und Pakistan hatten bereits Tote gemeldet.
"Einfach zusammengebrochen"
"Ehrlich gesagt war der Hadsch in diesem Jahr beschämend", sagte Ihlsa, eine Pilgerin aus Assuan im Süden Ägyptens, die ihren vollen Namen nicht nennen wollte, der DW. "Es war sehr schwierig, besonders während der Steinigung". Ein Teil des Hadsch-Rituals besteht darin, dass die Pilger Steine an drei Wände werfen, eine symbolische Form der "Steinigung des Teufels". "Die Leute sind einfach auf dem Boden zusammengebrochen", berichtet Ihlsa.
"Ich habe dem Sicherheitspersonal mehrmals von einem Pilger erzählt, der auf den Boden gesackt war", sagte Ihlsa. "Die Entfernung, um die Steine zu werfen, war wirklich zu weit, und gleichzeitig stand die Sonne hoch und es war so heiß."
"Sie sah erschöpft aus"
Die nicht registrierten Pilger hatten keinen Zugang zu Wasser, Schatten oder gekühlten Räumen. Wie offenbar auch die 70-jährige Effendiya aus Ägypten. Die Teilnahme an der Hadsch sei der größte Traum seiner Mutter gewesen, erzählte ihr Sohn der BBC. Die fünffache Mutter hatte laut dem britischen Sender sogar ihren Schmuck verkauft, um sich die Reise leisten zu können.
Auch sie reiste mit einem Touristenvisum nach Mekka, nicht mit einem offiziellen Hadsch-Visum. Eine offizielle Teilnahme hätte sie rund 6.000 Dollar gekostet. Effendiyas Reise wurde von einem lokalen Vermittler organisiert, der ihr die Hälfte dieses Betrags in Rechnung stellte, ihr aber wohl einen Fünf-Sterne-Service versprach, so ihre Familie. Die Realität habe jedoch ganz anders ausgesehen, sagten sie.
Am Arafat-Tag, der in diesem Jahr auf den 15. Juni fiel, versammelten sich die Pilger von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Berg Arafat, um zu beten und zu predigen. Der Berg liegt etwa 20 Kilometer von Mekka entfernt. "Der Bus setzte sie etwa zwölf Kilometer vom Berg Arafat entfernt ab und fuhr ab. Sie musste den ganzen Weg zu Fuß gehen", sagt Tariq, der älteste Sohn von Effendiya. "Wann immer ich sie per Videocall anrief, schüttete sie sich Wasser über den Kopf. Sie konnte die brütende Hitze nicht ertragen. Bei unserem letzten Anruf sah sie erschöpft aus." Effendiya starb, als sie sich an einer Straßenecke in den Schatten legte, um Luft zu holen.
Ihr Leben lang für die Hadsch gespart
Saida Wurie berichtete im Gespräch mit der US-amerikanischen CNN, dass ihre Eltern rund 23.000 Dollar für ein All-inclusive-Paket über ein im Bundesstaat Maryland registriertes Reiseunternehmen ausgegeben hatten. "Sie haben ihr ganzes Leben dafür gespart", sagte sie dem Sender.
Über einen Familiengruppen-Chat habe sie engen Kontakt zu ihren Eltern gehalten. In diesem Chat habe sie erfahren, dass der Reiseveranstalter nicht für den ordnungsgemäßen Transport oder die für die Teilnahme an der Pilgerfahrt erforderlichen Bescheinigungen gesorgt haben soll. Die Gruppe, mit der ihre Eltern reisten, umfasste bis zu 100 Mitpilger und habe nicht genügend Lebensmittel und Vorräte für die fünf- bis sechstägige Reise gehabt. Schließlich musste sie erfahren, dass ihre 65-jährige Mutter und ihr 71-jähriger Vater während der Hadsch, vermutlich beim Aufstieg auf den Berg Arafat, ums Leben gekommen sind.
"Nicht an Vorschriften gehalten“
Andere sahen auch die Pilger in der Verantwortung. Die DW sprach mit einem Manager eines privaten ägyptischen Reiseunternehmens, das seit mehreren Jahren ägyptische Pilger nach Mekka bringt. "Die Temperaturen waren hoch und die Leute haben sich nicht an die Vorschriften gehalten und waren sich auch nicht bewusst, wie gefährlich die Hitze war", sagte der Manager, der seinen Namen nicht nennen wollte, der DW am Telefon. "Jeder hat einfach gemacht, was er wollte, und das Ganze war schlecht organisiert. Außerdem gab es nicht genug Zelte für alle."
"Die Pilger müssen besser aufgeklärt und sensibilisiert werden", fuhr er fort. "Der Staat hat durchaus Verpflichtungen und trägt Verantwortung. Der [saudische] Staat ist beispielsweise nicht in der Lage, Sonnenschirme auf dem Gipfel des Berges Arafat aufzustellen. Aber das Verhalten einiger [Pilger] deutet auf einen Mangel an Bewusstsein hin. Und damit meine ich das Bewusstsein dafür, wie die Hadsch-Rituale durchzuführen sind." Viele Pilger wüssten nicht, dass man sich für das Ritual auch einfach auf einen niedrigeren Hang stellen könne.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Arabisch und wurde am 26. Juni 2024 aktualisiert.