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Übergangsregierung nimmt Arbeit auf

18. Januar 2011

Die neue tunesische Übergangsregierung hat viel zu tun bis zu den Neuwahlen. Auch wenn die Opposition an ihr beteiligt ist, bleiben die Schlüsselressorts bei Ministern des alten Regimes. Das sorgt für Unmut.

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Ein Mann verlässt in Tunis eine Bäckerei mit mehreren Baguettes in der Hand (Foto: AP/dapd)
Viele Tunesier hoffen, dass jetzt wieder etwas Ruhe in ihren Alltag einkehrtBild: AP

Die Lage in Tunesien entspannt sich: In der Nacht zum Dienstag (18.01.2010) wurden bislang keine weiteren Plünderungen oder Übergriffe gemeldet. Trotzdem sind für den Tagesverlauf erneut Protestkundgebungen geplant. Grund dafür ist die Zusammensetzung der neuen Übergangsregierung. Der tunesische Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi, der von Interimspräsident Foued Mbazaa mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt worden war, hat zwar mehrere Führer der Opposition am Montag in die neue Regierung berufen. Die Chefs der Schlüsselressorts für Auswärtiges, Inneres, Verteidigung und Finanzen blieben allerdings im Amt.

Demonstrant in Tunis (Foto: AP/dapd)
Rund 1000 Menschen demonstrierten in TunisBild: AP

Oppositionsführer Najib Chebbi wurde zum Minister für regionale Entwicklung berufen. Auch die führenden Oppositionspolitiker Ahmed Ibrahim und Mustafa Ben Jaafar erhielten Posten im neuen Kabinett. Ghannouchi kündigte bei der Vorstellung der Ministerrunde zudem die Freilassung aller politischen Gefangenen an.

Offiziell: 78 Tote

Die neue tunesische Regierung hat die Zahl der Toten bei den Unruhen der letzten Tage nach oben korrigiert: Innenminister Ahmed Friaa sagte, insgesamt seien bei den Ausschreitungen 78 Menschen getötet worden. Zu ihnen gehört nach Angaben des französischen Außenministeriums auch der deutsch-französische Fotograf Lucas Mebrouk Dolega. Der 32-jährige Reporter war am Freitag während der Ausschreitungen in der Hauptstadt aus nächster Nähe von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden. Die von Innenminister Friaa genannten Todeszahlen entsprechen etwa den Schätzungen von Menschenrechtsgruppen. Etwa 94 Personen seien verletzt worden. Den wirtschaftlichen Schaden durch die Unruhen bezifferte Friaa auf 1,6 Milliarden Euro.

Am Montag kam es bei einer Kundgebung erneut zu Auseinandersetzungen. Rund 1000 Menschen zogen durch die wichtigste Straße in Tunis und forderten die Regierungspartei RCD auf abzutreten. "Die Revolution geht weiter", skandierten die Protestteilnehmer nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP. Die Polizei löste die Kundgebung wegen des geltenden Demonstrationsverbots mit Wasserwerfern und Tränengas auf.

Marzouki kündigt Kandidatur an

Ein Kind gibt einem tunesischen Soldaten Blumen, dieser fasst ihn ans Gesicht (Foto: dpa)
Die Tunesier gingen auch am Montag wieder auf die StraßeBild: picture alliance/dpa

Ähnliche Kundgebungen gab es nach Korrespondentenberichten auch in den Städten Sidi Bouzid und Regueb im westlichen Teil Tunesiens. In Sidi Bouzid hatte sich am 17. Dezember ein 26-jähriger Arbeitsloser aus Protest gegen die Lage im Land verbrannt. Sein Tod war Auslöser der Unruhen in dem Land. Mittlerweile hat die Tat Nachahmer in mehreren arabischen Staaten der Region gefunden. Am Montag lagen allein aus Algerien Berichte über vier Fälle vor. Auch in Ägypten und Mauretanien haben sich Bürger Augenzeugen und örtlichen Medien zufolge aus Protest gegen die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse selbst in Brand gesetzt.

Die neue tunesische Übergangsregierung soll das Land bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in spätestens zwei Monaten führen. Der ehemalige Vorsitzende der tunesischen Menschenrechtsliga Moncef Marzouki hat in einem Radiointerview seine Kandidatur für die vorgesehenen Neuwahlen angekündigt. Der 65 Jahre alte Medizinprofessor leitet die Partei Republikanischer Kongress (CPR). Die Bewegung setzt sich für einen demokratischen Staat ein und war unter Ben Ali verboten.

EU bietet Hilfe an

Die Ehefrau von Ben Ali, Leila Ben Ali (Foto: dpa)
Leila Ben Ali soll bei der Flucht 1,5 Tonnen Gold gestohlen habenBild: picture alliance/dpa

Beim Übergang hin zu einer stabilen Demokratie hat die Europäische Union Tunesien umfassende Hilfe angeboten. "Wir bekräftigen unsere Solidarität mit Tunesien und seinem Volk", sagte eine Sprecherin von Außenkommissarin Catherine Ashton. Die EU sei zu sofortiger Hilfe bereit, etwa wenn es um die Vorbereitung und Organisation von Wahlen gehe. Ein umfangreiches Maßnahmenpaket sei in Vorbereitung, das die demokratischen Reformen und die wirtschaftliche Entwicklung unterstützen solle.

Unterdessen machten Gerüchte über Ben Alis Ehefrau und von ihr gestohlenes Gold die Runde. Nach einem Bericht der französischen Zeitung "Le Monde" soll die Präsidentengattin kurz vor der Flucht ins Exil noch 1,5 Tonnen Gold von einer Bank abgeholt haben. Leila Ben Ali habe dafür persönlich die Zentralbank in Tunis aufgesucht. Der Bankchef habe das geforderte Gold zunächst nicht herausgeben wollen. Erst als die 53-Jährige telefonisch ihren Mann einschaltete, seien ihr die Barren im Wert von 45 Millionen Euro ausgehändigt worden. Damit sei sie anschließend vermutlich in ein Flugzeug in Richtung Dubai gestiegen. Die tunesische Zentralbank hat die Berichte allerdings zurückgewiesen. Die Goldreserven seien in den vergangenen Tagen nicht angetastet worden, sagte ein Vertreter der Bank.

Flucht durch den Tunnel

Mittlerweile sind auch Details über die Flucht des Präsidentenpaares bekannt geworden. Ein Hausangestellter der Präsidentenfamilie erklärte, Ben Ali und seine Frau hätten sich am Tag ihrer Flucht nichts anmerken lassen. Die Präsidentengattin habe in der Küche noch ein Mittagessen bestellt, das aber nicht mehr verzehrt worden sei. Stattdessen seien Ben Ali und seine Angehörigen durch einen geheimen Tunnel von Sidi Bou Said nach Karthago verschwunden. Dort seien sie in einen Hubschrauber gestiegen. Später am Tag seien dann Angehörige des Militärs in die Residenz des Präsidenten gekommen. Diese hätten das Hauspersonal aufgefordert, nach Hause zu gehen.

Autorin: Pia Gram/ Nicole Scherschun (dpa, afp, rtr, dapd)

Redaktion: Dirk Eckert