1:0 für die Polizei gegen die Clan-Familien?
31. Januar 2019Shisha-Bars, Wettbüros, Cafés und Teestuben - Mitte Januar gehen 1300 Polizeibeamte in Dortmund, Essen, Duisburg, Recklinghausen und Gelsenkirchen dem Verdacht der Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit nach. Es ist die größte Razzia in der Geschichte Nordrhein-Westfalens gegen kriminelle Großfamilien. "Null Toleranz" heißt die neue Linie gegen Clan-Kriminalität in dem westlichen Bundesland und darüber hinaus: Auch in Berlin, Bremen und Niedersachsen gibt es Razzien. Es ist der Anfangspunkt für die neue "Politik der 1000 Nadelstiche", wie es der NRW-Innenminister Herbert Reul formuliert. Doch sind die Clan-Familien wirklich so hochgradig nervös, wie es die Polizei beschwört? Oder vertrauen sie eher darauf, dass die Polizei den Druck auf Dauer nicht aufrechterhalten kann?
"Die Szene ist schon verunsichert", sagt der Islamwissenschaftler und Migrationsexperte Ralph Ghadban, "doch viel wichtiger ist das Signal, das der Staat aussendet: Wir erobern die Straße zurück. Das vermittelt den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit." So ist auch der Fall des Clan-Mitglieds Arafat Abou-Chaker in Berlin zu verstehen, dessen Haftbefehl aufgehoben wurde.
"Es war jedem bewusst, dass Arafat Abou-Chaker vermutlich nicht bis zu einer möglichen Anklageerhebung in Untersuchungshaft bleiben wird. Dennoch war es wichtig, ihn auch mal eine Zelle von innen sehen zu lassen", sagt Norbert Cioma, Leiter der Polizeigewerkschaft Berlin: "Ein aufgehobener Haftbefehl bedeutet nicht das Ende der Ermittlungen. Wir sind uns sicher, dass die Staatsanwaltschaft engagiert dranbleibt." Die neue Strategie: Die Clans sollen sich nicht mehr sicher fühlen.
Etwa 500.000 Menschen in Deutschland gehören einem Clan an
Jahrzehntelang hatte die Polizei bei den kriminellen Großfamilien mehr als ein Auge zugedrückt, auch um sich nicht dem Vorwurf der ethnischen Diskriminierung auszusetzen. Nun ist die Herausforderung dafür umso schwerer: Die Clan-Strukturen haben sich verfestigt, Parallelgesellschaften sind entstanden, der Gegner ist gewachsen. "In ganz Deutschland leben mittlerweile eine halbe Million Menschen, die zwar nicht alle kriminell sind, aber einem Clan angehören", schätzt Ghadban.
Die Nationalitäten sind bunt gemischt: Hierzulande gibt es libanesische Clans, türkische, kurdische, albanische, kosovarische und sogar tschetschenische Großfamilien, die illegale Geschäfte betreiben. Neulich wurden bei einem Hartz-4-Empfänger aus dem Milieu in einem Stiefel 60.000 Euro entdeckt. Doch der Mann ist immer noch auf freiem Fuß.
"Wir haben in Deutschland keine Beweislast-Umkehr wie zum Beispiel in Italien", klagt Ralph Ghadban: "Das heißt, wir müssen beweisen, dass das Geld aus dem Stiefel Diebesgut ist, statt dass der vermutliche Straftäter beweisen muss, dass es sich um ehrlich erworbenes Geld handelt." Nur mit einer Justiz, die knallhart durchgreife, sagt der Experte, könne Deutschland die Clan-Kriminalität erfolgreich bekämpfen.
Aussteigerprogramme für Frauen und Jugendliche
Eine Politik, die das Problem der Clan-Kriminalität endlich erkennt, eine Polizei, die kontinuierliche Razzien durchführt und eine Justiz, die alle rechtlichen Mittel ausschöpft - all dies müsse aber noch flankiert werden von Aussteigerprogrammen. "Etwa ein Drittel der Clan-Mitglieder möchte eigentlich ein normales Leben führen, sie fühlen sich in ihren Clans gefangen", erklärt Ghadban. Das Problem in Deutschland: Es gibt noch keine Aussteigerprogramme für Clan-Mitglieder, im Berliner Stadtteil Neukölln ist man gerade einmal dabei, ein derartiges Projekt zu starten.
"Wir müssen uns vor allem an Jugendliche und die Frauen wenden", fordert der Migrationsexperte. Nur bei diesen bestehe eine realistische Chance, sie aus traditionellen Familienstrukturen herauszubekommen. Vor allem aber müsse die Alternative, ein Leben ohne Clan, attraktiv genug sein. Die Garantie einer Ausbildung, anschließende Hilfe bei der Jobsuche und Unterstützung bei dem Weg in die Selbständigkeit gehörten dazu. "Das ist ein langwieriger Prozess", mahnt Ghadban, "dafür haben wir in Deutschland bislang keinerlei Infrastruktur."
Konzept aus Prävention und Repression
Deutschland muss bei den Clans - bei der Integration - genau das nachholen, was vor vier Jahrzehnten versäumt wurde, verlangen Experten. Oder: Die Fehler der Vergangenheit vermeiden, wie es Mathias Rohe ausdrückt. Der Islamwissenschaftler erinnert an das Jahr 1975, als die ersten Flüchtlinge des libanesischen Bürgerkriegs nach Deutschland kamen: "Wir haben den Menschen damals deutlich gemacht, dass wir sie hier nicht haben möchten - das heißt, sie hatten keinen Zugang zu Bildung und auch keinen Zugang zur Arbeit."
Damit habe Deutschland indirekt genau die Vorurteile bestätigt, die es gegenüber dem Staat auch in den Heimatländern gegeben habe: "Die Menschen sind aus Ländern gekommen, in denen sie nur im Schutz der Großfamilie überleben konnten, das war ihre Überlebensstrategie. Durch den Staat wurden sie dagegen nur diskriminiert."
Rohe plädiert wie Ghadban für ein ganzheitliches Konzept aus Prävention und Repression. Und für Verständnis, so schwer dies auch beim offensiven und aggressiven Verhalten der Clanmitglieder fallen dürfte: "Die Leute sind keine Monster, auch wenn sie manchmal so wirken. Und sie stecken in anderen Loyalitäten, das müssen wir wenigstens wissen."
Die Polizei gibt sich in diesen Tagen optimistisch, dass sie den Kampf gegen die kriminellen Großfamilien gewinnen kann. Aber man ist sich gleichzeitig bewusst, wie sehr ein langer Atem dazu nötig sein wird. Islamwissenschaftler Rohe vergleicht es mit einem Lauf: "Das Ganze wird kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon!"