Fukushima: Wende für deutsche Energiepolitik
11. März 2021Am 11. März 2011 löst eines der schwersten Erdbeben der Geschichte im Pazifik einen Tsunami aus. Die riesige Welle überschwemmt auch das japanische Kernkraftwerk Fukushima. Die Kühlung fällt aus. In den folgenden Stunden und Tagen tritt in drei der sechs Blöcken eine Kernschmelze ein - ein GAU, der größte anzunehmende Unfall. Seit der Katastrophe im sowjetischen Kraftwerk Tschernobyl 1986 hat es eine nukleare Havarie von diesem Ausmaß nicht gegeben.
Der entscheidende Unterschied zu Tschernobyl, der auch überzeugte Atomkraft-Befürworter ins Zweifeln bringt: Japan ist ein Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards.
Merkel hatte kurz vorher Laufzeiten verlängert
Zu den Zweiflern gehört plötzlich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die gelernte Physikerin glaubte bisher an die friedliche Nutzung der Kernenergie. 2006 griff sie die rot-grüne Vorgängerregierung unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder an, die den Atomausstieg bereits beschlossen hatte: "Ich werde es immer für unsinnig halten, technisch sichere Kernkraftwerke, die kein CO2 emittieren, abzuschalten (…). Eines Tages werden die Sozialdemokraten das auch einsehen."
Wer dann allerdings umdenkt, ist Merkel: Drei Tage nach dem Atomunfall gibt sie bekannt, wegen der "unfassbaren Katastrophe" in Japan "werden wir die erst kürzlich beschlossene Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aussetzen".
Die Grünen gewinnen Baden-Württemberg
Welche politische Wucht Fukushima entfaltet, bekommt Merkels Parteifreund Stefan Mappus nur zwei Wochen später zu spüren. Der besonders atomfreundliche Ministerpräsident von Baden-Württemberg verliert die Landtagswahl an die Grünen unter Winfried Kretschmann. Die Anti-AKW-Partei führt damit zum ersten Mal eine deutsche Landesregierung, noch dazu in einem konservativ geprägten Bundesland - bis heute.
Drei Monate später beschließt der Bundestag den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022. Allerdings verklagen die Energiekonzerne den Staat auf Schadensersatz. Erst im März 2021 einigen sich beide Seiten endgültig auf eine Entschädigung von 2,4 Milliarden Euro. Die Steuerzahler kommen für den Umweg auf, den Merkel mit ihrem Ausstieg aus dem Ausstieg genommen hatte.
Greta Thunberg und die Atomkraft
Wohl in keinem anderen Land der Welt hat Fukushima eine so radikale Energiewende eingeleitet wie in Deutschland. In Japan selbst zum Beispiel ist von einem Atomausstieg keine Rede. Und auch einige andere Regierungen sehen in den CO2-armen Kernkraftwerken einen Beitrag zur Lösung der Probleme des Klimawandels, etwa in Frankreich, Großbritannien und den USA. Das ist auch die Ansicht des Weltklimarats. Die Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg sagte, die Kernenergie könne "ein kleiner Teil einer sehr großen, neuen kohlenstofffreien Energielösung" sein.
Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Bundesumweltministerium, hält die Vorstellung, mit Atomkraft das Klima zu schützen, allerdings für eine "Illusion", schon weil ihr Anteil an der Weltenergieversorgung mit rund fünf Prozent viel zu gering sei: "In Wahrheit ist es keine zukunftsfähige Energieversorgung. Es droht diesen Ländern, dass sie den Anschluss an eine wirklich nachhaltige, erneuerbar basierte Energiewelt verlieren." Wer auf sie setze, werde in Zukunft ähnliche Probleme haben, "wie wir sie in der Automobil-Industrie erleben, weil wir zu spät erkannt haben, dass die Zukunft eben nicht der Verbrenner ist".
Etwas später als Deutschland scheint China nun diesen Weg zu gehen. China baut viel weniger neue Kernreaktoren, als im letzten Fünfjahresplan vorgesehen, treibt aber umso entschiedener Wind- und Wasserkraft sowie Photovoltaik voran.
Kernenergie verursacht hohe Kosten
Der Energiewissenschaftler Dirk Uwe Sauer von der Technischen Hochschule Aachen ist der Überzeugung, dass sich Kernkraft nicht rechnet: "In Ländern mit liberalisierten Strommärkten entstehen Atomkraftwerke nur bei staatlicher Absicherung der Kostenrisiken." Das gelte etwa für Frankreich und Finnland.
Dabei sind das Sicherheitsrisiko und die nach wie vor ungeklärte Frage der Endlagerung des Atommülls noch gar nicht berücksichtigt. Und Flasbarth gibt sich überzeugt: "Die Erneuerbaren werden immer billiger, während Atomkraft immer teurer wird." Schon heute könne Atomstrom mit Strom aus Solaranlagen und Windkraftanlagen an Land nicht konkurrieren, dieser Trend werde sich fortsetzen.
Für Entwicklungsländer sieht Flasbarth erst recht keine Perspektive für die Kernenergie: "Wenn schon hochindustrialisierte Technologieländer erstens Schwierigkeiten haben, diese Technologie zu beherrschen, zweitens in vernünftigen Zeiträumen Anlagen auch volkswirtschaftlich zu vernünftigen Kosten zu errichten, wie sollte das dann in Entwicklungsländern gehen?"
Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für Sicherung in der nuklearen Entsorgung, vermutet bei einigen Ländern andere Gründe: "Die zivile Nutzung dieser Technologie ist in der Vergangenheit immer gepaart gewesen mit der Frage der militärischen Verwertbarkeit." Daher bestehe die Gefahr, dass die Technik auch angewendet werde in "nicht gerade stabilsten politischen Systemen".
Energiewende in Deutschland zu langsam?
Da Deutschland beschlossen hat, bis Ende 2022 aus der Kernkraft und bis 2038 auch aus der Kohleverstromung auszusteigen, müssen die erneuerbaren Energien umso schneller ausgebaut werden. Das geht Energiewissenschaftler Dirk Uwe Sauer derzeit zu langsam. Er fordert "wesentlich ambitioniertere Ziele", hält den Umstieg in dem geplanten Zeitraum aber für möglich. Staatssekretär Flasbarth glaubt: "Das Potential erneuerbarer Energien wird bei weitem unterschätzt." Zugleich wächst der Widerstand von Anwohnern von Windrädern und Solarparks .
In Frankreich liegt der Atomstromanteil bei rund 70 Prozent. Hier steht eine Grundsatzentscheidung, wie es mit der Kernkraft weitergehen soll, erst noch bevor. Sie soll nach der nächsten Wahl 2022 getroffen werden.
Selbst die wenigen Befürworter halten sich zurück
In Deutschland dagegen hat Fukushima eine Entscheidung gebracht, die heute nur noch wenige Politiker infragestellen. Jochen Flasbarth nennt den endgültigen Atomausstieg "eine der größten Konsensleistungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte".
Ganz einhellig ist der Konsens aber nicht. In einem Positionspapier des Bundesfachausschusses Wirtschaft, Arbeitsplätze und Steuern der CDU wird vorsichtig gefordert, "Projekte zur Kernfusion und zu kleineren modularen Reaktoren ergebnisoffen" zu prüfen, nicht aber den Neubau von Großkraftwerken.
Einzig die AfD will eine Rückkehr zur Atomkraft, vor allem aus Gründen der Versorgungssicherheit. Sie argumentiert, die Energiewende habe den Strom zu stark verteuert. Im Wahlkampf für die anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz geht die Partei aber nur zurückhaltend mit der Forderung um. Auch für sie scheint eine Rückkehr zur Kernenergie kein Gewinnerthema zu sein.