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100 Jahre Deutsches Volksliedarchiv

Renate Heilmeier21. Juli 2014

Seit 1914 gibt es dieses einzigartige Sammlung in Freiburg. Heute bietet die Bibliothek die verschiedensten Möglichkeiten für wissenschaftliche Recherchen und hat sich in Zentrum für Populäre Kultur und Musik umbenannt.

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Blick in die heute Bibliothek (Foto: Zentrum für Populäre Kultur und Musik)
Bild: Zentrum für Populäre Kultur und Musik

Es gibt einige Dinge im Leben, denen wir uns alles andere als wissenschaftlich nähern. Das Mitsingen von Schlagern, Musikhören auf dem Weg zur Arbeit oder der Besuch eines Pop-Konzerts gehören in diese Kategorie. Doch es gibt Forscher aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich genau dafür interessieren: der Inhalt von Liedtexten oder wie sich im Laufe der Jahre das Umfeld verändert hat, in denen wir populäre Musik wahrnehmen. Der neue Name "Zentrum für Populäre Kultur und Musik" kommt der heutigen Realität näher, geht es doch um viel mehr als das reine Sammeln von Noten und Textheften.

Der Begriff Volkslied weckt ohnehin Assoziationen, die zum populären Lied von heute nicht mehr passen: Jahrzehntelang war Singen auch von oben herab verordnet: in den Schulen, in der Kirche, beim Militär. "Auch das gehört zur Geschichte des Volksliedes," meint Michael Fischer, einer der Direktoren des Archivs. Heute nimmt man es mit der Definition nicht mehr so eng. Es werden neben Volksliedern auch amerikanische Popsongs zum Forschungsgegenstand - oder Schlager.

Gestern und heute

Michael Fischer lächelt in die Kamera (Foto: Zentrum für Populäre Kultur und Musik)
Michael Fischer freut sich auf die nächsten 100 JahreBild: Zentrum für Populäre Kultur und Musik

Während in der klassischen Volksliedforschung vor 1950 ein Volkslied einfach aus Melodie und Text bestand, kamen mit der Popmusik auch neue popkulturelle Phänomene auf die Wissenschaftler zu: "Wenn Sie im Fernsehen eine Castingshow sehen, geht es um Inszenierungspraktiken, um Jugendkultur und die Vermarktung der Musik und nicht um den Text und die Melodie eines Liedes."

So erklärt Michael Fischer, Geschäftsführender Direktor des Zentrums, das zur Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg gehört, wie das Archiv heute in den popkulturellen Zusammenhang eingebunden ist. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich auch mit Herausforderungen an die Musikindustrie durch Internet und Streaming oder Starinszenierungen als Erfolgsfaktor. Egal ob Maria und Margot Hellwig, Brigitte Bardot oder Conchita Wurst: Sie alle sind nicht allein durchs Singen bekannt geworden, sondern auch durch ihre Bühnendarstellung und ein unverwechselbares Äußeres.

John Meier und der Mainstream

Nostalgisch gestaltetes Deckblatt eines Schlagerheftes (Foto: Zentrum für Populäre Kultur und Musik)
Schlagerhefte mit ForschungswertBild: Zentrum für Populäre Kultur und Musik

Der Gründer des Archivs, der Germanist und Volkskundler John Meier, begann vor rund 100 Jahren mit seiner Liedersammlung. Zum damaligen Kernbestand der Sammlung gehörten auch Kriegs- und Soldatenlieder, Handschriften mit Liedtexten und erste Aufzeichnungen von mündlich überlieferten Texten. Meier setzte sich dafür ein, dass diese Sammlung systematisch ergänzt wurde und allen zur Verfügung stand. Seine Vorstellung davon, was ein Volkslied ist, war noch klar zu definieren: Es sollte mündlich überliefert worden sein. Doch schon vor 100 Jahren war dieser Ansatz etwas antiquiert. Denn es gab parallel zur traditionellen Musik bereits eine kommerzielle, populäre Musik. Schallplatten mit Operettenmelodien und Schlagern, Liederbücher und kurz darauf das Radio sorgten dafür, dass schon bald, nachdem ein Lied komponiert worden war, alle den Text kannten und mitsangen. Heute nennen wir das Mainstream.

Single-Alben mit Hits von Louis Armstrong und Charles Asnavour (Foto: Zentrum für Populäre Kultur und Musik)
Schallplatten für ForscherBild: Zentrum für Populäre Kultur und Musik

Michael Fischer und die Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen, die heute am Zentrum für Populäre Kultur und Musik arbeiten, interessieren sich häufig genau für diese Musik, die alle hören. Denn hier lassen sich gesellschaftliche Trends erkennen. Deshalb freuen sich Fischer und seine Kolleginnen und Kollegen am Volksliedarchiv auch über die 20.000 Singles, die die Bibliothek aus Nachlässen bekommen hat.

"Wir haben nichts gegen Rares und Seltenes, aber für die Forschung sind Mainstream-Produkte viel aussagekräftiger. Und da sehe ich auch die Kontinuität zu John Meier, der von einer 'Musik der Vielen' sprach."

Melodien für Millionen

Schon immer wurden "alle Bereiche des Lebens vertont und als Lied gestaltet. Und schon immer gab es Evergreens. Aber das häufigere Phänomen ist sicher, dass jede Generation ihre eigenen, neuen Lieder singen möchte", meint Fischer. Und so wird das Zentrum für Populäre Kultur und Musik auch in den nächsten hundert Jahren genug Stoff zum Sammeln haben. Und dabei wird kein Genre zwischen Schlager und Pop ausgelassen. In den Datenbanken finden sich Liedersammlungen für jede Gelegenheit: Von Trinkliedern bis zu politischen Protestsongs. Seit 2010 ist auch das Deutsche Musicalarchiv in der Freiburger Bibliothek zu finden, das seinen Bestand durch Spenden von Theatern und Privatleuten ständig erweitert.

Boney M. Cover "Daddy Cool" (Foto: Zentrum für Populäre Kultur und Musik)
Pop als Ausdruck von ModeBild: Zentrum für Populäre Kultur und Musik

Musik ist auch Teil einer kollektiven Erinnerungskultur. In der Bibliothek stehen die Volkslieder mehrerer Generationen in Form von Sammelalben mit Hitsingles: Von Heimatliedern, Heino und Heintje über die Beatles, Boney M., Madonna und Michael Jackson."Musik wird heute vor allem medial wahrgenommen", so Fischer. Sie wird verbreitet über CD, Smartphone, Schallplatte, Downloads oder auch Fernsehen und Radio. Trotzdem wird natürlich noch immer aktiv selbst Musik gemacht, aber das Repertoire, das gesungen wird, hat sich verändert. Egal, ob im Gesangverein oder zuhause. Außerdem singen wir mit, wenn das Autoradio läuft oder gehen zu Karaoke-Partys.

Und der soziale Kontext, in denen Musik stattfindet, ist für die Erforschung von Liedern und Songs in manchen Fachbereichen mindestens genauso wichtig wie die Inhalte. Denn nicht nur die Musikwissenschaft, Germanistik. Literaturwissenschaft oder Amerikanistik bedient sich in der neuen Bibliothek des Zentrums für Populäre Kultur und Musik, auch Soziologen, Psychologen, Historiker und Theologen werden bei ihren Recherchen dort fündig.