17.11.2010: Der Trend zum digitalen Schaf
17. November 2010Überall auf Mekkas Straßen Blut und tote Schafe? Faszinierte Menschentrauben bei rituellen „Live-Schlachtungen“? So hat sich einer meiner Bekannten aus Deutschland das Opferfest während des Hadsch vorgestellt. Vielleicht auch mancher User?
Tierschützern und Vegetariern kann ich natürlich keine völlige Entwarnung geben – aber das Opferfest in Mekka hat keineswegs öffentlichen „Massaker-Charakter“, wie mein Bekannter vermutet hat. Nach islamischem Ritual werden die Schlachttiere geschächtet, das heißt, das Tier blutet nach einem Schnitt durch die Kehle komplett aus. Das geschieht im Regelfall in großen Schlachtbetrieben und zwar entweder durch einen Metzger oder unter dessen professioneller Anleitung - aber nicht etwa auf Marktplätzen oder gar vor Moscheen.
Geschlachtet wurde vornehmlich am Dienstag (16.11.), zum Opferfest, aber auch noch an den anschließenden Feiertagen heute und morgen (17. und 18.11.). Bisher habe ich aber keinen einzigen Blutstropfen gesehen. Das liegt auch an einem neuem Trend, der hier in Mekka mindestens genauso verbreitet ist wie inzwischen unter türkischen und arabischen Muslimen in Deutschland: dem Trend zum digitalen Schaf bzw. elektronischen-Schaf, dem e-Schaf.
Ich weiß, das klingt witzig – es hat aber einen ernsten Hintergrund. Denn einerseits sollen Muslime am Opferfest oder den Tagen danach ein Opfertier schlachten und das Fleisch auch an Arme und Bedürftige verteilen. Andererseits essen viele wohlhabende saudische Familien sowieso fast jeden Tag Fleisch. Doch die Mehrzahl der wirklich bedürftigen Muslime lebt in ärmeren Ländern in anderen Weltregionen wie Afrika.
Die Idee ist: Via Internet-Banking zahlt man rund 400 Rial, das sind rund 80 Euro, für ein digitales Schaf an eine wohltätige Stiftung. Die organisiert, das ein reales Schaf in dem armen Land geschlachtet und das Fleisch an die dortigen Armen verteilt wird. „Ich finde das eine sehr gute Idee“, sagt mir ein Saudi dazu. „Was sollten wir denn anfangen mit dem ganzen Fleisch in unseren Kühlschränken?! Andere benötigen das viel dringender.“
Mein erster Steinwurf auf den Teufel
Da ich als Journalist unterwegs bin, habe ich selbst weder ein echtes noch ein digitales Schaf geschlachtet. Aber ich habe es mir nicht nehmen lassen, wenigstens den Teufel zu steinigen (und habe ihn auch getroffen)! Alles natürlich nur symbolisch: Die mehrfache Satans-Steinigung gehört hier am Opferfest und den folgenden Tagen zum festen Ritual. Beim Steinwurf spricht jeder Pilger die Worte: "Im Namen Gottes, Gott ist groß." Damit bittet man Gott um Verzeihung für die begangenen Sünden. Die Steine bringen die Pilger übrigens aus dem Tal Muzdalifah mit: zwei Millionen Pilger mit je 49 Kieselstein großen Steinen – macht zusammen rund 300 Tonnen. Sie werden anschließend von saudischen Staatsbediensteten nach Muzdalifah zurückgekarrt.
Der Teufel wird bei dem Ritual durch eine Wand symbolisiert, die zu einer von drei Säulen gehört. Diese Säulen ragen aus der gigantischen Dschamarat-Brücke heraus. Diese Brücke ist ein wahrer Segen für den Hadsch! Sie wurde vor einigen Jahren unter Beteiligung deutscher Ingenieure neu gebaut und bietet dank ihrer fünf Etagen viel mehr Platz und Sicherheit als früher. Massenpaniken mit Todesfolge sind seitdem ausgeblieben.
Jedes Haar eine Sünde
Bei der rituellen Aufhebung des Weiheszustands treffe ich Aaron aus Indonesien. Er hält eine Schere in der Hand und will sich, wie viele Männer hier, alle Haare vom Kopf rasieren lassen. Rasieren oder zumindest Schneiden der Haare gehört zu den Pflichten beim Hadsch. Ich frage Aaron, warum er sich eine Glatze rasieren lassen will, denn eine Totalrasur ist nicht zwingend vorgeschrieben. Er sagt: „Jedes Haar auf meinem Kopf stellt für mich eine Sünde dar. Wenn ich alle Haare abrasieren lasse, dann bedeutet das für mich, wie ein neues Kind geboren zu werden – frei von Sünden.“
Dazu eine witzige Beobachtung am Rande: Es gibt natürlich auch Männer, die schon als Glatzköpfe hierherkommen, weil sie das persönlich gerne so tragen, oder weil ihnen aus anderen Gründen die Haare bereits ausgefallen sind. Viele dieser Muslime lassen sich sogar ihren kahlen Kopf noch einmal rasieren – natürlich rein symbolisch, denn da ist ja nichts mehr. Nach der Rasur ziehen die Pilger ihre Hadsch-Kleidung aus und tragen wieder ihre normalen Klamotten. Auch ich wechsele wieder zu Jeans und Polohemd.
Hadsch-Gewänder „made in China“
Hätten Sie übrigens gedacht, dass viele der Hadsch-Gewänder in Mekka „made in China“ sind? Der Pilger Muhammad aus China hat mich darauf aufmerksam gemacht – und er ist auch sehr stolz darauf. Er gehört zur muslimischen Minderheit in seinem Land, die teilweise ja durchaus unterdrückt wird - aber Muhammad fühlt sich ganz als Chinese und erklärt mir gegenüber: „Ich wünsche mir, dass China Weltmeister der Weltwirtschaft wird.“ Ich glaube, dass die Chinesen da auf keinem schlechten Weg sind …
Die internationale Atmosphäre hier begeistert mich immer wieder – und damit möchte ich auch gleich auf eine Frage von DW-User Detlev Abebe antworten, der wissen möchte: „Wie ist Dein Eindruck von der Mehrheit der anderen Pilger? Sind sie weltoffen und tolerant – oder eher ideologisch vernagelt?“ Eher ersteres, würde ich sagen. Ich habe hier bisher jedenfalls niemanden gehört, der öffentlich fundamentalistische Reden geschwungen hätte. Die meisten Leute hier freuen sich einfach, gemeinsam mit Pilgern aus aller Welt, ein wichtiges religiöses Ereignis zu durchleben. Etwas anderes ist natürlich das offizielle saudische Islamverständnis. Das ist schon sehr konservativ.
Aber selbst das stellt sich nach einem Blick hinter die Kulissen anders dar, als ich erwartet hätte. So ist zum Beispiel das offiziell sehr streng geregelte Verhältnis zwischen Männern und Frauen doch etwas lockerer, als ich erwartet hatte – jedenfalls im nicht-öffentlichen Bereich. Ein anderes, eher kurioses Beispiel: Der Verkauf von Zigaretten ist in Mekka strengstens verboten – nicht jedoch das Rauchen an sich.
Unverschleierte Frauengesichter
Keine klare Auskunft habe ich bisher erhalten zu einer Frage, die DW-Userin „Milena“ mir gestellt hat: „Warum dürfen sich Frauen während der Ausübung der Pilgerrituale nicht verschleiern?“ Tatsächlich muss zumindest das Gesicht frei erkennbar sein – anders als im saudischen Alltag, wo viele Frauen ihr Antlitz verbergen. Ein Religionsgelehrter hier sagte mir, dies gehe wahrscheinlich auf die Frauen des Proheten zurück, die ihr Gesicht damals ebenfalls nicht verschleiert hatten. Ich persönlich denke: Dies könnte ein deutlicher Hinweis sein, dass die Total-Verschleierung überhaupt nicht der Religion entspringt - sondern nur der Tradition.
Autor: Ali Almakhlafi, Mekka
Redaktion: Rainer Sollich