Yom Kippur-Krieg
6. Oktober 2008In Israel ist der höchste jüdische Feiertag, der "Yom Kippur", ein Tag der totalen Ruhe und des Fastens: Der öffentliche Verkehr ruht, Rundfunk und Fernsehen senden nicht und wer einigermaßen religiös ist, der verzichtet auf Essen und Trinken. Und die Synagogen sind besser besucht als sonst: Man bittet Gott um Vergebung für die großen und kleinen Sünden des zurückliegenden Jahres.
So wird es auch 1973 erwartet: Am Nachmittag des 5. Oktober ist das Land in die beschriebene Isolation gegangen. Die Übergänge zu den palästinensischen Gebieten werden geschlossen. Am Yom Kippur selbst, dem 6. Oktober, aber ereignen sich merkwürdige Dinge: Gegen Mittag höre ich Passanten in meinem arabischen Vorort "Kharb, kharb" rufen – "Krieg, Krieg" – und wenige Minuten später ruft ein französischer Kollege aus dem jüdischen Westteil Jerusalems an: Dort seien plötzlich Autos auf der Strasse zu sehen. Da stimme doch etwas nicht. Und wenig später beginnt der Rundfunk seine Sendungen. Es stimmt tatsächlich etwas nicht: Der vierte Nahost-Krieg ist ausgebrochen: Der "Yom-Kippur-", "Ramadan-" oder einfach "Oktober-Krieg".
Angriff von zwei Seiten
Israel ist völlig überrumpelt, als um 14 Uhr zeitgleich ägyptische und syrische Streitkräfte angreifen – die einen am Suez-Kanal, die anderen auf den Golan-Höhen. Fünf ägyptische Divisionen mit 70.000 Mann überqueren an mehreren Stellen den Suez-Kanal und haben leichtes Spiel mit den nur knapp 500 israelischen Soldaten, die Stellungen der sogenannten "Bar-Lev-Linie" östlich des Kanals halten. Bis Verstärkung aus dem Landesinneren kommt, haben die Ägypter ihre Brückenköpfe bereits ausgeweitet und einen Teil der Sinai-Halbinsel zurückerobert, die sie im Sechstagekrieg 1967 komplett an Israel verloren hatten.
Auf den ebenfalls seit 1967 von Israel besetzt gehaltenen Golan-Höhen beginnt der Krieg mit massiven Angriffen der syrischen Luftwaffe und Artillerie, wenig später stoßen Panzer-Divisionen mit insgesamt 1400 Panzern vor, gefolgt von zwei weiteren Divisionen. Auch auf dem Golan sind die Israelis unvorbereitet, haben schwere Verluste und müssen vor allem die seit 1967 auf den Höhen errichteten Siedlungen evakuieren. "Wir kämpfen, um unsere besetzten arabischen Gebiete zu befreien", sagte der stellvertretende syrische Außenminister Abdul Ghani Rafii. "Wir kämpfen, um eine gerechte Lösung für das palästinensische Volk zu erreichen, auf dem Prinzip der Selbstbestimmung, die diesem Volk zugestanden werden muss".
Israels Gegenangriff
Fast verliert Israel die Kontrolle über die Golan-Höhen. Erst am dritten Tag des Krieges setzt der Gegenangriff richtig ein. In zwei Tagen hat man die Höhen wieder erobert, ab dem dritten Tag wird der Krieg in syrisches Gebiet hineingetragen. Die Israelis dringen dabei bis nach Sasa vor, etwa 40 Kilometer von Damaskus entfernt. Auf der ägyptischen Front gelingt es ihnen, den Suez-Kanal ihrerseits zu überqueren und Gebiet westlich davon zu erobern, bis hin zur Strasse Suez-Kairo. Bei diesem Vorstoß wurde die Dritte Ägyptische Armee umzingelt und von ihrem Hinterland abgeschnitten.
Der Krieg dauert länger als andere vor ihm. Unter anderem, weil die Supermächte die verfeindeten Seiten massiv mit Waffen versorgen und die Vereinten Nationen erst am 21. und am 22. Oktober zu einem Waffenstillstand aufrufen können. Der Aufruf wird gekoppelt an die Sicherheitsrats-Resolution 338, in der von einer gerechten Lösung des Nahostkonflikts die Rede ist und von der Notwendigkeit, besetztes Gebiet wieder aufzugeben. In Europa bekommt man in jenen Tagen zum ersten Mal die Waffe eines arabischen Öl-Boykotts zu spüren. Der damalige saudische Erdölminister, Sheich Zaki Yamani, erklärt: "Wir bitten Europa nicht, das Problem alleine zu lösen. Aber wir denken, dass Europa bei der Lösung des Problems helfen kann".
Waffenstillstand und Truppenentflechtung
Am 24. Oktober kommen die Kämpfe zu einem Ende. Ägypten hat 15.000 Opfer zu beklagen, Syrien 3000 und Israel 2656. Am Boden ist die Lage verworrener als zuvor. Ende 1973 wird in Genf eine UN-Friedenskonferenz einberufen, deren zwei Treffen aber nichts erbringen. In langwierigen Verhandlungen am Kilometer 101 der Strasse Suez-Kairo wird dann aber ein Truppen-Entflechtungsabkommen ausgehandelt und Anfang 1974 zieht Israel sich vom Westufer des Kanals zurück; Ägypten geht auch wieder auf die Ausgangslinien des Krieges zurück.
Gegenüber Syrien vermitteln die Vereinigten Staaten unter ihrem Außenminister Henry Kissinger und es kommt auch hier zu einer gegenseitigen Truppen-Entflechtung. Während im Sinai UNO-Truppen wieder stationiert werden, kommen auf die Golan-Höhen eine Truppe von UN-Truppen-Entflechtungsbeobachtern (UNDOF). Nach dem Krieg ist der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir förmlich anzuhören, dass ihr Land überrumpelt worden war: "Der Krieg brach eigentlich um zwei Uhr aus, aber um vier Uhr morgens erst hatten wir definitive Bestätigung, dass der Krieg stattfinden wird und das an der ägyptischen und syrischen Grenze gleichzeitig".
Rücktritte in Israel
In Israel beginnt eine akribische Suche nach den Verantwortlichen. Eine Untersuchungskommission – die Agranat-Kommission – wird zu diesem Zweck eingesetzt. Schnell stellt sich heraus, dass der militärische Geheimdienst, aber auch die Politiker versagt haben: Kriegsvorbereitungen der Ägypter und Syrer waren seit 1972 beobachtet, aber immer als Manöver oder Täuschung interpretiert worden. Israel war sich seiner eigenen Stärke zu sicher, der Überlegenheit der eigenen Truppen wie auch der Verteidigungsanlagen am Suez-Kanal. Generalstabschef David Elazar wollte zwar die Truppen zu Beginn des Krieges mobilisieren, aber die Politiker lehnten ab. Sie glaubten nicht an Krieg und wollten die Spannung nicht mit ihrer Mobilisierung verschärfen.
Ministerpräsidentin Golda Meir und Verteidigungsminister Moshe Dayan treten zurück, auch Elazar geht in den Ruhestand. Sie kommen nie über das Versagen während des Oktoberkrieges hinweg. Dieser Krieg öffnet aber auch die Tür zu politischen Bemühungen: Da beide Seiten sich nun als Sieger dieses Krieges und deswegen als Gleichberechtigte fühlen, sind zumindest Ägypten und Israel schließlich zu einem Frieden bereit.