Erdogan und seine AKP - 20 Jahre an der Macht
3. November 2022Galoppierende Inflation, hohe Arbeitslosigkeit, enorme Staatsschulden und Korruption. Dazu eine Dreier-Koalition mit zerstrittenen Parteien, Rücktritte aus der Regierung. Dann wurde auch noch der 77-jährige Ministerpräsident Bülent Ecevit krank. 2002 herrschte in der Türkei eine schwere wirtschaftliche und politische Krise. Neuwahlen wurden ausgerufen, bei denen am 3. November das Volk die etablierten Parteien abstrafte. Nur noch zwei Parteien schafften es ins Parlament. Der Sieger war die unerfahrenste, nur ein Jahr zuvor gegründete AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung mit der starken Führungsfigur Recep Tayyip Erdogan.
Aus dem Stand erzielte sie am 3. November 2002 die absolute Mehrheit. Sie bekam 363 von 550 Sitzen. Seitdem hat die AKP alle Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen.
Nach dem Wahlsieg an jenem Novemberabend sagte Erdogan in einer Rede: "Wie Atatürk es gesagt hat: Die Herrschaft gilt bedingungslos dem Volk. Nach dem 3. November beginnt in der Türkei ein neues Zeitalter. Heute schlagen wir, Inschallah, ein neues Kapitel auf. Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, um die Türkei in eine bessere Zeit zu führen."
Die AKP versprach, die verschiedenen Lebensformen aller Bürger zu respektieren, ein Programm zu verfolgen, das die Arbeit der Verfassungsinstitutionen verbessert und den EU-Beitritt der Türkei vorantreibt. Von Reformen, Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand war anfangs die Rede.
Die ersten Erfolge der AKP
In den folgenden Jahren gelang der AKP tatsächlich ein anhaltender Wirtschaftsaufschwung. Bis 2012 hatte sich im schwer angeschlagenen Land das Bruttoinlandsprodukt mehr als verdreifacht. Die AKP stellte nicht nur ihre Wähler zufrieden, sie bekam auch Unterstützung von Sozialdemokraten, Intellektuellen und Kurden. In den Jahren danach hat die Partei eine eigene Mittelschicht und - durch die Vergabe von staatlichen Aufträgen - auch eine superreiche Elite geschaffen, die sie bis heute trägt.
Durch diverse Verfassungsänderungen setzte sich die AKP gegen den Einfluss des Militärs und der sogenannten etablierten säkulären Elite durch. Der Mitbegründer und Freund von Erdogan, Abdullah Gül, wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Eine Zäsur. Nie zuvor hatte ein islamisch-konservativer Politiker, dessen Ehefrau ein Kopftuch trug, diesen Posten inne gehabt.
In der zweiten Hälfte der AKP-Regierungszeit blieb allerdings von den anfänglichen Reformversprechen, Stärkung der Demokratie und Modernisierung des Landes kaum etwas übrig. Seit den Gezi-Protesten im Frühsommer 2013 zeigt sie nur noch ihre brutale Seite.
Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 geht es Erdogan und seiner AKP nur noch um Machterhalt. Gesetze werden verändert, Erdogans Kompetenzen ausgebaut, das Parlament verlor an Bedeutung. Heute herrscht in der Türkei ein Regime, bei dem die Gewaltenteilung in einer Hand liegt: bei Erdogan. Polizei und Staatsanwälte warten nur auf ein Zeichen, um gegen Kritiker, Künstler, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Journalisten und Studenten vorzugehen. Trotz mehrerer Korruptionsskandale, in die Spitzenpolitiker der AKP verwickelt sind, ist ihre Macht ungebrochen. Es gibt keine Staatsanwälte, die den Mut aufbringen würden, gegen sie zu ermitteln.
Die AKP ist ein "Erdogan-Feierclub"
Für Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in der Türkei, hat sich die AKP seit ihrer Gründung radikal verändert. Was vor 20 Jahren als breite konservative Sammlungsbewegung begann, die anfangs durchaus auch Zuspruch von Liberalen bekam, habe sich in den letzten 20 Jahren in einen Erdogan-Feierclub verwandelt, sagt er im Interview mit der DW. Auch wenn die AKP heute noch beeindruckende Netzwerke an der Basis habe, wie Frauenvereine, Nachbarschaftshilfen, Wirtschaftsverbände oder Jugendgruppen, sei sie als Partei nur auf Erdogan zugeschnitten.
Brakel betont auch, dass von den durchaus liberal-konservativen Ideen der Anfangszeit nichts mehr übriggeblieben sei. Ideologie und Rhetorik der AKP schwanken seiner Meinung nach zwischen wirtschaftlichem Modernisierungswillen und nationalistisch-religiös verbrämten Aufstiegsfantasien zurück zur einstigen Großmacht. Unklar ist, wieviel davon wirklich aus Überzeugung und wieviel von der Notwendigkeit einfacher Botschaften für die Bevölkerung genährt wird.
Opfernarrative der AKP
In der Tat wird es immer schwieriger, festzustellen, wofür die AKP steht. In ihrem Narrativ dominiert weiterhin die islamisch-konservative Ideologie. Sie und ihre Wählerschaft werden stets als Opfer der Republik dargestellt. Nach ihrer Lesart wurden Frauen mit Kopftuch Jahrzehnte lang in der Türkei benachteiligt, gläubige Muslime durch die herrschende säkuläre Elite diskriminiert.
Gerade vergangene Woche präsentierte der AKP-Fraktionsvize Mahir Ünal die islamisch-konservative Wählerschaft der Partei als Verlierer von Atatürks Reformen. In Anspielung auf die Einführung des lateinischen Alphabets bei der Gründung der Türkei sagte er: "Die Republik hat unsere Sprache, unseren Wortschatz, unser Alphabet und unsere Denkweise vernichtet."
Nach heftiger Kritik machte er einen Rückzieher. Er sei stolz auf seine türkische Sprache und auf sein Volk, die Türken. Dennoch musste er am Montag sein Amt niederlegen. Wegen der schlechten Stimmungswerte wurde ihm das von seiner Partei nahegelegt.
Für Dr. Salim Cevik von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ist diese "Flexibilität" der AKP gleichzeitig auch ihre Stärke. Bei der AKP gebe Erdogan den Ton an und die Partei passe sich ihm an. Und Erdogan kann seine Positionen schnell verändern, betont Cevik. "Heute kann er mit Kurden einen Friedensprozess führen, morgen kann er gegen sie militärisch vorgehen. Heute kann er mit der EU verhandeln, am nächsten Tag kann er der schärfste Gegner des Westens sein." Und bei all dem schaffe es Erdogan, seine Anhänger mitzunehmen. Diese Widersprüche nähmen seine Wähler ihm nicht übel, so der Türkei-Experte.
Auch in Deutschland hat Erdogans AKP eine große Anhängerschaft. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 bekam er 64,8 der Stimmen von den Deutschtürken, die zur Urne gingen.
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023
Derzeit liegt die AKP laut Umfragen zwischen 30 und 32 Prozent. Mit ihrem Bündnispartner, der ultranationalistischen MHP kommt sie gerade mal auf knappe 38 Prozent. Allerdings sind Erdogans Zustimmungswerte viel höher als die seiner Partei.
Was neu ist in der Türkei: Zum ersten Mal haben sechs sehr unterschiedliche Oppositionsparteien ein Bündnis gegen die AKP geschmiedet. Eine weitere Allianz haben die Kurden und Sozialisten gegründet.
Aber bleiben bei den nächsten Wahlen 2023 Präsidentschaft und Parlamentsmehrheit in AKP-Hand oder wird ihre Alleinherrschaft nach 20 Jahren erschüttert? Für den Fall, dass die Opposition im Parlament die Mehrheit gewinnt, Erdogan aber als Präsident im Amt bleibt, geht der Türkei-Experte Brakel von einer instabilen Regierung aus. Seiner Meinung nach würde dann Erdogan stärker als bisher am Parlament vorbeiregieren. Allerdings könne die Opposition ihm da das Leben schwer machen - vermutlich wären vorgezogene Neuwahlen dann die Folge.
Sollte aber die Opposition auch den Präsidenten stellen, stünde sie laut Brakel vor der großen Herausforderung, schnell greifbare Verbesserungen zu den wichtigsten Themen wie Migration und Wirtschaft zu liefern, was nicht einfach sei. Das Risiko, dass die breite Oppositionsfront sich an der Macht zerlegt, sei dann hoch, so Brakel. Bei den 2024 anstehenden Kommunalwahlen könnte die AKP dann ein Comeback erleben, sagt der Türkei-Experte voraus.
Salim Cevik von der SWP glaubt, der Westen und ausländische Investoren würden sich bis dahin eher um einen krisenfreien Umgang mit Ankara bemühen, erst danach würden sie ihre Türkei-Politik neu ausrichten. Einer würde sich allerdings nicht zurückhalten, sondern aktiv Erdogan zum Sieg verhelfen: Der russische Präsident Wladimir Putin. Er leiste jetzt schon Unterstützung, bringe Erdogan stets als Vermittler in der Ukraine-Krise ins Spiel, auch wirtschaftlich greife er ihm unter die Arme, so Cevik weiter. Wie weit Putin gehen würde und ob seine Bemühungen der AKP beim Machterhalt helfen, werden die nächsten Monate zeigen.