Srebrenica - Qualen der Erinnerung
8. Juli 2015"Da, mach ein Foto von dem Hangar", ruft Džemal Hajdarpašić, der Fahrer der Organisation "Vive Žene" ("Es leben die Frauen"). Anstatt anzuhalten drückt er auf das Gaspedal. So kann man aber kein Foto machen. Die Sache ist Džemal zu heikel, er ist Bosniake (bosnischer Muslim) und der Hangar, den er meint, steht mitten in dem Dorf Kravica unweit von Srebrenica, in dem mehrheitlich bosnische Serben leben. Mehr als 1000 Bosniaken wurden an dieser Stelle von bosnisch-serbischen Soldaten umgebracht. Er hält schließlich doch an, nicht ohne sich ängstlich umzuschauen, ob sich jemand dem Auto nähert. Das Gebäude steht kurz vor dem Zerfall. Bröckelnder Beton und rostige Eisenstreben ragen einem entgegen. Am Boden sind rote Pfützen vom tropfenden Rost. Es gibt kein Erinnerungsschild, keine Mahntafel, die an die Ereignisse hier erinnern würde. Die Außenwände des Gebäudes aber zeugen vom Massaker, dass hier stattfand. Unzählige Einschusslöcher sind zu sehen. "Hier haben sie sie alle hineingepfercht - und geschossen", sagt Džemal.
Putin-Bilder als Provokation
Das geschah zwei Tage nach dem Fall von Srebrenica. Die muslimischen Männer und Jugendlichen wurden damals von ihren Frauen und Müttern getrennt, einige versuchten zu fliehen. Die 1000, die in dem Hangar von Kravica interniert waren, fanden einen langsamen qualvollen Tod. Früher, sagt Džemal, lieferten Bauern der örtlichen Kooperative hier ihre Ernte ab. Am 13. Juli 1995 schossen die bosnisch-serbischen Einheiten mehr als eine Stunde lang in das Gebäude hinein. Um sicherzugehen, dass auch alle getötet wurden, warf man Handgranaten durch die offenen Fenster. Jedes Jahr, so Džemal, versuchen die Angehörigen der Opfer hier Blumen niederzulegen, Teile der örtlichen serbischen Bevölkerung hindern sie aber daran und die Polizei lässt dies auch nicht zu. Die Putin-Bilder an den Wänden des Hangars in Kravica sprechen eine deutliche Sprache. Jeder hier versteht die Provokation: Serbische Radikale wollen damit zeigen, dass der russische Präsident den orthodoxen Serben beistehen werde. Es ist eine weitere Verhöhnung der Opfer.
Erinnerungen der bosnischen Serben
Im Ort Kravica selbst hatten auch die bosnischen Serben Opfer zu beklagen. Am serbisch-orthodoxen Weihnachtsfest im Jahr 1993 fielen bosniakische Truppen aus Srebrenica in das kleine Dorf ein und töteten 49 Menschen, einige davon Zivilisten. Nach bosniakischer Lesart waren die Truppen auf der Suche nach Essen, weil Srebrenica schon lange durch die bosnischen Serben belagert wurde. Aus der Sicht der bosnischen Serben allerdings stellt dieses Massaker, wie sie es nennen, den eigentlichen Grund für den Einmarsch in die Enklave Srebrenica mehr als zwei Jahre später dar. In Srebrenica wurden rund 8000 muslimische Jungen und Männer von bosnisch-serbischen Soldaten und Freischärlern umgebracht. Das Massaker wurde von der internationalen Justiz als Völkermord eingestuft.
Die Organisation "Vive Žene" aus der Stadt Tuzla hat es sich zur Aufgabe gestellt, traumatisierte Frauen zu betreuen, die im Bosnien-Krieg Angehörige verloren haben. Die Therapeutin Aida Mustačević-Cipurković erzählt, dass die Frauen aus Srebrenica viele Jahre nichts über das Schicksal ihrer Familienmitglieder wussten. "Einige Frauen wählten den Freitod. Die Last, die sie tragen mussten, war zu schwer. Die, die überlebt haben, sind bis heute schwer traumatisiert", sagt die Therapeutin.
"Mit den Nachbarn in Frieden leben"
Eine Besonderheit des Projekts: "Vive Žene" bringt Frauen von beiden Seiten zusammen. Die bosnische Serbin Zdravka Pajić aus Kravica und die Bosniakin Safeta Beganović treffen dort aufeinander. Safeta wirkt robust und resolut, eine Frau, die sich von niemandem etwas sagen lässt. Sie betreibt im Örtchen Konjević Polje in der Nähe von Srebrenica eine kleine Hühnerfarm, und ihre rauen Hände zeigen, dass sie die Hauptarbeit macht. Fragt man sie aber nach ihrer Geschichte, hält sie inne und taumelt fast. Tränen fließen die Wangen herunter: "Mein Baby war nur sechs Monate alt, als ich aus Srebrenica geflüchtet bin und meinen Mann zurücklassen musste. Erst sechs Jahre später wurden seine Knochen gefunden." Das Baby von damals, Muarem, ist heute ein junger Mann. Er hilft im Betrieb, wann immer es sein Studium zulässt.
Zdravka Pajić aus dem Ort Kravica hingegegen züchtet Himbeeren und Blaubeeren. Auch sie hat Angehörige im Krieg verloren, ihr Haus wurde im Jahr 1993 zerstört. Sie hat es gemeinsam mit ihrem Mann notdürftig wiederaufgebaut. Die beiden haben drei Mädchen - Slavica, Sara und Marija: "Sie sollen einmal eine bessere Zukunft haben, studieren, mit ihren Nachbarn in Frieden leben", sagt Zdravka. In den gemeinsamen Gruppensitzungen, fügt sie noch hinzu, reden sie über alles mögliche, vom Wetter bis zu den Hürden, die man als Landwirtin oder Hühnerzüchterin in Bosnien-Herzegowina meistern muss. Aber auch über die schmerzlichen Themen, über die Verluste auf beiden Seiten.
Dabei gehe es nicht darum, die Verbrechen in eine Relation zueinander zu stellen, so die Therapeutin Aida Mustačević-Cipurković: "Kein Verbrechen kann das andere entschuldigen, aber jedes Opfer zählt." Und genau dies hilft den Frauen - über das Erlebte zu reden und auch der anderen Seite zuzuhören.