20 Jahre Rimini Protokoll: Irritation als kreatives Prinzip
Das Ideenkollektiv Daniel Wetzel, Helgard Haug und Stefan Kaegi wagen viel. Sie rütteln an Klischees und Tabus, hinterfragen gern. Als Theater-Label hat sich Rimini Protokoll als Kulturfaktor etabliert.
"100% Berlin reloaded": Das Abbild der Stadt
Die Wiederaufnahme des in 40 Städten auf der ganzen Welt adaptierten Stücks "100% Stadt" gehört zu den Jubiliäums-Feierlichkeiten. 2008 verwandelte sich die Bühne des HAU 1 in ein statistisches Abbild Berlins. 100 Bürger werden nun - wieder im HAU - auf der Bühne präsentieren, was sich verändert hat: Gibt es neue Gruppen, neue Gräben zwischen Bevölkerungsteilen? (Foto: "100% Karlsruhe"/2011)
"Feast of Food": Die Inszenierung des Jetzt
Den 20. Geburtstag nehmen mehrere Berliner Theaterhäuser zum Anlass, Arbeiten des Regie-Kollektivs Haug, Kaegi und Wetzel zu zeigen. Im HAU (Hebbel am Ufer) läuft "Feast of Food" - eine Videoinstallation. Mittels 3D-Brille taucht der Betrachter in eine Fiktion ein, die laut Rimini Protokoll harte Fakten präsentiere: die "heutige unverstellte Realität globaler Nahrungsmittelproduktion".
"win > < win": Gewinner des Klimawandels
Aktuell ist auch die Installation "win > < win" (2017). Darsteller sind: lebende Quallen und der sie anschauende Mensch. In der Reflexion des Gefäßes erkennt der Betrachter auch sich selbst. Die Qualle gilt als eines der wenigen Lebewesen, das von der Erderwärmung profitiert. "Eco-Visionaries" an der Londoner Royal Academy of Arts zeigt die irritierende Gegenüberstellung bis zum 23.02.2020.
"Mein Kampf": Leser als Schauspieler
2015, kurz bevor der Urheberschutz für die nationalsozialistische Hetzschrift auslief, brachten Haug und Wetzel "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2" auf die Bühne. Es integriert acht Rezeptionserfahrungen von Lesern. U.a. bezeugt der israelische Jurist Alon Kraus, dass man mit der Schrift deutsche Touristinnen anflirten könne. Zugleich löse die Aufführung des Stücks in Israel Unbehagen aus.
"Welt-Klimakonferenz": Ein Minimalkonsens?
Im 2014 uraufgeführten Theaterstück "Welt-Klimakonferenz" schlüpfen die Zuschauer in die Rolle der verhandelnden Diplomaten und verlassen dazu ihre Sitzplätze. Die Bemühungen um den Schutz der Atmosphäre können echt ermüdend sein. Welches Ergebnis wird vermeldet: Fiasko, Minimalkonsens oder gar Triumph? 2014 trat auch der Klimafolgen-Forscher Bernd Hezel in dem Stück auf (im Foto links).
"Zeugen!": Ein Justiz-Meta-Prozess
Die Bretter, die die Welt bedeuten, liegen für manche im Gerichtssaal. "Interpretiert" wird dort, so Rimini Protokoll, täglich der Gesetzestext. Die Darsteller: In Roben gekleidete Richter, Anwälte und Staatsanwälte. In "Zeugen!" (2004) stehen sowohl tatsächliche Gerichtsangehörige als auch Schauspieler auf der Bühne. Ein Meta-Prozess im Theater, dem das Gericht als Rohstofflieferant dient.
Theater-Label Rimini Protokoll
Daniel Wetzel (Foto) gründete Rimini Protokoll im Jahr 2000 gemeinsam mit Helgard Haug und Stefan Kaegi. Allein, zu zweit oder zu dritt erarbeiten sie mit Experten ihre Bühnenstücke, die auch an großen Häusern aufgeführt werden, sowie szenische Installationen und Hörspiele. Als "Expertinnen des Alltags" - das dürften die Bilder der Galerie gezeigt haben - treten u.a. Nicht-Schauspieler auf.
Hohe Produktivität, ein kollektives Konzept
Rimini Protokoll bezieht die Zuschauer in ihre Stücke ein. Hier kam das Publikum 2010 auf den Stühlen zwischen den Regisseuren Daniel Wetzel und Helgard Haug über die an der Wand notierten Themen heftig ins Gespräch. Das politische Engagement der hochkreativen Regietruppe reicht von historisch-brisanten bis hin zu aktuell ökologischen Fragestellungen. Ein Ziel ihrer Arbeit: die Irritation.