2017: Deutschland und Türkei in der Krise
25. Dezember 2017Die deutsch-türkischen Beziehungen erreichten 2017 ihren historischen Tiefpunkt. Gegenseitiges Misstrauen und Konflikte, die nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei im Vorjahr entstanden waren, bereiteten den Nährboden für neue Krisen.
Im Februar wurde der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in der Türkei verhaftet. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan stempelte den Korrespondenten der Tageszeitung "Die Welt" öffentlich als "Terroristen" und "Agenten" ab. Nach zehn Monaten Haft liegt immer noch keine Anklageschrift vor. Berlin prangerte die Festnahme Yücels als "politische Geiselnahme" an.
Die nächste Krise folgte kurz vor den Wahlen zum Verfassungsreferendum Mitte April: Deutsche Kommunen untersagten türkischen Politikern Wahlkampfauftritte. Umfragen prognostizierten für das Verfassungsreferendum ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Erdogan und seine Partei kämpften um jede Stimme, um das für die politische Zukunft des Staatspräsidenten entscheidende Präsidialsystem einführen zu können.
Eskalation sicherte Wählerstimmen
Erdogan zeigte sich empört, dass er und seine Regierungsvertreter in Deutschland und den Niederlanden, die selber mitten im Wahlkampf standen, unerwünscht waren. Seine Nazi-Vergleiche und Eskalationspolitik sorgten im Ausland für Empörung - zuhause brachten sie ihm zusätzliche Wählerstimmen ein.
Erdogan gewann das Referendum mit einer knappen Mehrheit. Die in Deutschland lebende türkischstämmige Bevölkerung hatte ebenfalls mehrheitlich dafür gestimmt. Das nahm die rechtspopulistische AfD im beginnenden Bundestagswahlkampf zum Anlass, diese "Ja-Sager" aufzufordern, in die Türkei zurückzukehren. Auch andere deutsche Politiker entdeckten das Thema Türkei für ihre innenpolitischen Interessen. So wurde die Frage, ob die EU-Verhandlungen mit der Türkei abgebrochen werden sollen, eines der großen Themen des deutschen Wahlkampfes.
Nach Meinung von Experten spielten die Wahlen in beiden Ländern bei der Eskalation eine große Rolle. "Das Wahljahr 2017 hat leider Gottes beiden Seiten nichts Gutes gebracht", so der Politikwissenschaftler Mustafa Nail Alkan von der Gazi-Universität in Ankara. "Beide Seiten haben versucht, in der Wahlperiode innenpolitisch zu punkten. Das ist ihnen auch gelungen."
Kritik schießt über das Ziel hinaus?
Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, kritisiert "den hysterischen Ton" im deutschen Wahlkampf gegenüber der Türkei: "Es gibt eine durchaus berechtigte Kritik an dem zunehmend autoritären Kurs in der Türkei. Aber dann gibt es auch Kritik, die ein bisschen über das Ziel hinausschießt. Präsident Erdogan bietet ein sehr dankbares Ziel. Personen, die sich bisher noch nie mit der Türkei beschäftigt und sich nicht besonders mit ihrem Einsatz für Demokratie und Menschenrechte hervorgetan haben, versuchen mit dem Thema Türkei zu punkten."
Auch nach dem türkischen Referendum war keine Entspannung in Sicht: Der Konflikt um die Besucherrechte deutscher Parlamentarier im türkischen Luftstützpunkt Incirlik führte zur Verlegung deutscher Truppen nach Jordanien. Offiziere, die von der Türkei in Verbindung mit dem Putschversuch gesucht wurden, beantragten in Deutschland Asyl. Im Juli kam Erdogan zum G20-Gipfel nach Hamburg. Die Bundesregierung erlaubte ihm nicht, dort eine Rede vor seinen Landsleuten zu halten. Anfang Juli wurde dann der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner zusammen mit anderen Aktivisten in Istanbul festgenommen.
Warnsignal aus Berlin
Ende Juli kündigte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel schließlich eine "Neuausrichtung der Türkei-Politik" an. Reisehinweise für die Türkei sollten verschärft, die Vergabe von Hermes-Bürgschaften und Vorbeitrittshilfen der EU neu bewertet werden.
Nach Meinung des türkischen Politikwissenschaftlers Alkan war Gabriels Ankündigung eher als Warnsignal als ernstgemeinte Sanktion zu verstehen. Deutschland und die Türkei seien sehr wichtige Partner, die einander bräuchten. Ein Rückgang der wirtschaftlichen Beziehungen würde beiden Seiten schaden, so Alkan weiter.
Kristian Brakel von der Böll-Stiftung sieht "keinen großen Kurswechsel" in der deutschen Politik. Die Absicht eines härteren Kurses sei genau da ausgebremst worden, wo die Interessen deutscher Unternehmen berührt worden wären. "Vieles - wie zum Beispiel die Kürzung der Vorbeitrittshilfen durch die EU - sind relative Peanuts", so Brakel. "Das Einzige, wo Deutschland sich wirklich einsetzt und was für die Türkei potenziell schmerzhaft sein könnte, ist, dass man die europäische Investitionsbank angehalten hat, Kredite an die Türkei nicht mehr so vorbehaltlos zu vergeben."
Schröders geheime Vermittlungsmission
Nach der Bundestagswahl Ende September erschienen Medienberichte, wonach Altkanzler Gerhard Schröder in geheimer Mission mit Erdogan in der Türkei zusammengekommen war - initiiert von Außenminister Gabriel und abgestimmt mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Gabriel bestätigte das und bedankte sich bei Schröder für die Vermittlung. Obwohl Ankara bestritt, dass bei dem Gespräch um die Freilassung des inhaftierten Steudtners gegangen sei, wurde dieser im Oktober aus türkischer Haft entlassen. Er durfte nach Deutschland zurückkehren.
Der Politologe Mustafa Nail Alkan lobt die Rolle des Altkanzlers: Schröder sei eine Person, der sowohl die türkischen als auch die deutschen Politiker vertrauten. "Beide Seiten wollten eine Entspannung. Sonst hätte man den Vermittlungsversuch auch ablehnen können", so Alkan.
Und es gab weitere Schritte der Entspannung: Anfang November kamen Außenminister Gabriel und sein türkischer Kollege Mevlüt Cavusoglu in Antalya zu einem informellen Treffen zusammen. Fotos der beiden leger bekleideten Minister wurden über die sozialen Medien verbreitet.
Ende November führten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Merkel kurz nacheinander Telefongespräche mit Erdogan. Sie berieten eine "Verbesserung der Beziehungen".
Anfang Dezember wurde schließlich Deniz Yücels Isolationshaft gelockert. Zwei Wochen danach kam die seit mehr als sieben Monaten inhaftierte deutsche Übersetzerin Mesale Tolu unter Auflagen aus der Untersuchungshaft frei.
Krise überstanden?
Tatsächlich sei eine "stille Annäherung" zwischen Berlin und Ankara zu beobachten, so Kristian Brakel. Das bedeute allerdings nicht, dass die Krise an sich vorbei wäre. Solange sich die innenpolitische Lage in der Türkei weiterhin verschlechtere und demokratische Standards abgebaut würden, bleibe das Thema in Deutschland aktuell.
Politikwissenschaftler Alkan prognostiziert für 2018 ein ruhigeres Jahr. Doch schließt er neue Krisen nicht aus, da für die alten fortdauernden Krisen bislang noch keine Lösungen gefunden wurden. In seinen Augen könnte sich gerade das Wahljahr 2019 zum Pulverfass entwickeln: Dann stehen nicht nur zahlreiche deutsche Landtagswahlen und die Europa-Wahl an, sondern auch die Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei. Beiden Seiten rät der Politologe dringend, vertrauensbildende Maßnahmen zu schaffen. Und da seien nicht nur die Politiker, sondern auch die Medien und die Zivilgesellschaft gefragt.