30 Jahre Slowakei: Jubiläum in unruhiger Zeit
30. Dezember 2022Martin Milan Simecka kommt gerade von einem Interview mit einem slowakischen Radiosender. Für das Treffen mit der DW hat er die Redaktionsräume von "Dennik N" vorgeschlagen, einer der wichtigsten privaten Nachrichten-Seiten in der Slowakei und Simeckas Arbeitgeber. Trotzdem ist der 65-Jährige nur selten hier:
"Ich gehöre dazu, aber in meinem Alter...", sagt er ironisch. "Ich sitze meistens zu Hause, denke nach und schreibe." Ihn interessieren dabei vor allem die größeren politischen Linien. Mit seinen Kommentaren, Büchern und Essays gehört er zu den einflussreichsten Analytikern des slowakischen Zeitgeschehens.
Die Redaktion von "Dennik N" befindet sich in einem Hochhaus nördlich des Zentrums der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Im Großraumbüro wird an diesem Dezembertag eine bevorstehende Vertrauensabstimmung im Parlament diskutiert - welche die Regierung unter Ministerpräsident Eduard Heger schließlich verlieren wird.
Für unser Gespräch ziehen wir uns in eine kleine ruhige Glaskabine am Rand des Büros zurück. Die Heizung ist hier voll aufgedreht, was Simecka in seinem dunkelgrauen Wollpullover jedoch nicht zu stören scheint. Nur einmal öffnet er den Reißverschluss am Kragen etwas weiter.
Ein "typischer Tschechoslowake"
Wir wollen über ein wichtiges Datum und seine Folgen zu sprechen: Vor 30 Jahren, am 1. Januar 1993, wurde die Tschechoslowakei aufgelöst und zwei unabhängige Staaten entstanden: Tschechien und die Slowakei. Nach der Samtenen Revolution, die 1989 zum Sturz der kommunistischen Diktatur geführt hatte, die das Land seit 1948 beherrschte, hatte man sich zur Teilung entschlossen. 30 Jahre später nun hat sich manches im Verhältnis der beiden Länder zueinander geändert - die Verbundenheit ist aber immer noch eng.
Simecka, dessen Vater ein bekannter Gegner des kommunistischen Regimes war, bezeichnet sich selbst als "typischen Tschechoslowaken": Er spricht beide Sprachen auf Muttersprachenniveau, seine Familie hat tschechische und slowakische Wurzeln. 1993 musste sich Simecka aber plötzlich entscheiden. "Das war ziemlich brutal", blickt er zurück.
Obwohl ihm aufgrund seiner tschechischen Eltern die tschechische Staatsbürgerschaft zugestanden hätte, entschied er sich für die slowakische. "Ich habe Seltenheitswert - viele Slowaken träumten damals von einem tschechischen Pass", lacht er. Die Sachbearbeiterin der slowakischen Passbehörde habe damals unter Freudentränen gesagt: "'So jemand ist mir noch nie begegnet, was ist denn passiert?'"
Aufspaltung ohne Referendum
Im Jahr zuvor, 1992, war die Entscheidung für die Teilung in zwei Staaten auf höchster politischer Ebene gefallen. Eine Volksbefragung gab es nicht. "Die Aufspaltung war gegen den Willen der Bevölkerung", sagt Martin Simecka. Umfragen zufolge befürwortete damals die Mehrheit der Menschen in Tschechien und der Slowakei den gemeinsamen Staat. "Ich wäre daher vorsichtig, die Teilung als Paradebeispiel für eine einvernehmliche Trennung zu loben - wie das in Westeuropa oft getan wird."
Simecka blickt beim Reden immer wieder hinaus aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite altert ein typisch tschechoslowakisches Hochhaus vor sich hin: Das runde Gebäude war einst ein Wohnheim für Soldaten, wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Maiskolben - Mais heißt auf Slowakisch "kukurica" - nennen die meisten Bratislavaer es "Kukuriza". Nach vielen Jahren, in denen sich offenbar niemand darum kümmerte, soll es nun bald renoviert werden - es tut sich etwas in der Slowakei.
Richtungsentscheidung im Jahr 1998
Dreißig Jahre zuvor hätten viele Menschen dort Angst gehabt vor einem unabhängigen Staat. "Weniger aus ökonomischen Gründen - obwohl es die sicher auch gab - als wegen der politischen Elite zu der Zeit." Der erste Ministerpräsident der unabhängigen Slowakei, Vladimir Meciar, führte das Land zunehmend autoritär, schildert Simecka die damalige Situation: "Meciar und seine Partei fingen an, sich wie die Kommunisten früher zu verhalten. Es folgten Zensur und der Kampf um Meinungsfreiheit."
Für Simecka sind deshalb die Parlamentswahlen 1998 sogar noch von größerer Bedeutung als die Demonstrationen im Herbst 1989: "Es gab den eindeutigen Willen, Meciar zu entmachten. Der Grund war natürlich, dass wir wussten: Mit dieser Regierung würden wir niemals der EU und der NATO beitreten." Im Jahr 1998 hätten die Slowaken also erstmals selbstbestimmt für Demokratie eingestanden.
Slowakisch-tschechisches Verhältnis heute
Damals gab es in der Slowakei die Befürchtung, von der Entwicklung Richtung Westen abgehängt zu werden: Während die Nachbarn Tschechien, Polen und Ungarn schon in die NATO eingeladen worden waren, musste die Slowakei noch bis 2004 warten. Bei der EU-Erweiterung im gleichen Jahr war die Slowakei dann wieder im Gleichklang mit den Nachbarn - und ging mit dem Beitritt zur Währungsunion 2009 sogar darüber hinaus.
Zuletzt gab es Unstimmigkeiten, weil Tschechien aufgrund der Migration einseitig Kontrollen an der gemeinsamen Grenze einführte - doch ein großes Problem in der Praxis sieht Simecka, der selbst regelmäßig nach Prag fährt, darin nicht. Insgesamt sei die Beziehung der seit 30 Jahren getrennten Staaten Slowakei und Tschechien von gegenseitigem Vertrauen geprägt: "Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr diese beiden Nationen sich lieben."
Die Tschechen hätten sonst keinen Nachbarn, den sie so sehr liebten, zum Beispiel definitiv nicht die Deutschen, sagt Simecka lachend. Und für die Slowaken sei es ähnlich: "Von allen Nachbarn sind die Tschechen die einzigen, die wir wirklich lieben können."
Unsichere Zeiten für die Slowakei
Dabei sind beide Länder 30 Jahre nach der Trennung wirtschaftlich weit entfernt von Augenhöhe: Das tschechische Bruttoinlandsprodukt ist zweieinhalb Mal so hoch wie das slowakische, auch die tschechischen Gehälter sind deutlich höher als die slowakischen. Und weil viele junge Slowaken zum Studium nach Tschechien gehen und nicht wenige von ihnen dort bleiben, ist in der Slowakei immer wieder vom "Brain Drain" Richtung Westen die Rede.
In einem Punkt seien viele in Tschechien aber neidisch auf die Slowakei - und der sei ihre Präsidentin Zuzana Caputova. Die Rechtsanwältin und ehemalige Umwelt- und Anti-Korruptionsaktivistin gilt als absolut unbestechlich und ist seit ihrer Wahl 2019 mit Abstand die beliebteste Politikerin ihres Landes. "Die Tschechen lieben sie", meint Simecka.
Viele der Kandidaten der tschechischen Präsidentschaftswahlen im Januar 2023 würden versuchen, sich etwas von Caputova abzugucken. Aber das sei eine Ausnahme: "Ansonsten ist die Slowakei kein Vorbild für Tschechien."
Korrekturhinweis: Im Text hieß es fälschlich erst, die kommunistischen Diktatur hätte die Tschechoslowakei seit 1945 beherrscht, die Stelle wurde korrigiert. Richtig ist 1948. Wir bitten die Ungenauigkeit zu entschuldigen.