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70 Jahre Zentralrat: Judentum in Deutschland

19. Juli 2020

Jüdisches Leben gehört in Deutschland wieder zum Alltag. Treibende Kraft ist der vor 70 Jahren gegründete Zentralrat der Juden. Eine Geschichte der schmerzhaften Erinnerung, aber auch ein Erfolg der Integration.

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Deutschland Mann mit Kippa
Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Es war ein Provisorium. Gut fünf Jahre nach der Shoah, dem Massenmord des nationalsozialistischen Deutschlands an sechs Millionen Juden, gründeten Vertreter der wiederbelebten jüdischen Gemeinden den "Zentralrat der Juden in Deutschland". Ein Zeichen der Existenz jüdischen Lebens im Land der Mörder.

Die ersten jüdischen Gemeinden lebten bereits einige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland 1945 wieder auf. Die "Israelische Kultusgemeinde" in München, heute eine der großen jüdischen Gemeinden bundesweit, gedachte in den vergangenen Juli-Tagen des 75. Jahrestages ihrer Wiedergründung.

Bis Ende 1945 waren insgesamt 51 jüdische Gemeinden in Deutschland wiedergegründet worden. Damit lebten zum Zeitpunkt der Gründung des Zentralrats insgesamt 15.000 Juden in Deutschland. Zum Auftakt in Frankfurt am 19.7.1950 waren laut Zentralrat auch noch Vertreter ostdeutscher Gemeinden dabei. Doch die Zahl der Juden, die in der DDR keine vergleichbare Institution hatten, sank. 1989 waren es in fünf Gemeinden wohl kaum 500 Juden.

Hilfe für die Überlebenden

"Der Zentralrat ist nicht als Interessenvertretung der Juden in Deutschland gegründet worden, unter dem Aspekt jüdisches Leben in 50 Jahren, in 70 Jahren, in 100 Jahren", sagt Josef Schuster. Der 66-jährige Mediziner ist seit bald sechs Jahren Präsident des Zentralrats der Juden. Schuster erläutert, das Spitzengremium sei bei seiner Gründung als "eine Unterstützungsorganisation" gedacht gewesen. Sie sollte die "Durchwanderung" von Überlebenden der nationalsozialistischen Judenverfolgung aus Mittel- und Osteuropa erleichtern, "auch die Auswanderung" von Juden aus Deutschland.

Deutschland Novemberpogrome 1938
Während der Reichspogrome 1938 wurden in Deutschland Juden verfolgt, verschleppt und zur Schau gestelltBild: KEYSTONE/picture-alliance

Es kam anders. Jüdinnen und Juden blieben dort, wo ihre Familien seit vielen Jahrhunderten lebten. Oder sie kehrten zurück aus anderen Teilen der Welt, die ihnen in der Zeit der Verfolgung Zuflucht gewährt hatten. Josef Schuster gehört dazu. Sein Vater und Großvater überlebten die Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald, reisten später von Deutschland nach Palästina aus. Schuster wurde 1954 in Haifa geboren. Als er drei Jahre alt war, kehrte seine Familie zurück nach Deutschland, in die fränkische Heimat.

Bewusst für Deutschland entschieden

"Es war", sagt Schuster "lange Zeit auch in jüdischen Kreisen sehr problematisch, sich dazu zu bekennen, dass man bewusst in Deutschland lebt." Das habe sich eigentlich erst in den 1970er Jahren unter dem Zentralrats-Präsidenten Werner Nachmann geändert. "Er war der erste, der offen gesagt hat: Ja, jüdisches Leben in Deutschland existiert." Immer wieder gab es aus Israel Kritik daran, vielen war schier unvorstellbar, dass es im Land der Täter jüdisches alltägliches Leben geben sollte. Später, in den 1990er Jahren sagte ein Zentralrats-Präsident, Ignatz Bubis, den wichtigen Satz: "Ich bin deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens."

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, spricht während des Gemeindetages des Zentralrates im Dezember 2019Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Heute ist der Zentralrat die anerkannte Interessenvertretung der etablierten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Ihm gehören 105 Gemeinden mit nach offiziellen Angaben knapp 100.000 Mitgliedern an. Die Repräsentanten sind national als Autorität geachtet, medial gefragt und international vernetzt. So ist Schuster, als bisher achter Zentralrats-Präsident auch Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und des Europäischen Jüdischen Kongresses.

Alltag nur mit Polizeischutz

Und doch – Bedrohungen und Antisemitismus gehören zum Alltag jüdischen Lebens in Deutschland. Vor der baulich gesicherten Geschäftsstelle des Zentralrats in der Berliner Mitte, dem Leo-Baeck-Haus, stehen Tag und Nacht Polizisten Wache. Ein Bild, das sich an vielen Stätten jüdischen Lebens in Deutschland wiederholt. Beleidigende Schmierereien, Bedrohungen sind an der Tagesordnung. Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf Jüdinnen und Juden. Zumeist sind sie nach Angaben der Behörden rechtsextrem motiviert, aber auch Migranten zählen zu den Tätern.

Pianist Igor Levit bei der Demonstration gegen Antisemitismus in Halle
Pianist Igor Levit spielt während der Demonstration gegen Antisemitismus und rechten Terror nach dem Anschlag auf die Synagoge in HalleBild: Imago Images/snapshot/F. Boillot

Zuletzt erschütterte im Oktober 2019 der gescheiterte Versuch eines mutmaßlich Rechtsextremen, einen Massenmord in der Synagoge von Halle zu verüben. Er ermordete eine Passantin und einen Angestellten eines Döner-Ladens. "Ich habe nicht das Gefühl, dass die Anzahl der Menschen mit Ressentiments, mit antisemitischem Gedankengut größer geworden ist oder mehr geworden ist als vor zehn oder 20 oder 30 Jahren", sagt Schuster. Aber er habe das Gefühl – und mache dafür die AfD verantwortlich – "dass man sehr wohl bereit ist, diese Gedanken wieder zu artikulieren".

Anschlag in Halle: Machtlos gegen rechten Terror?

Lange Zeit zählten kaum 30.000 Mitglieder zu den jüdischen Gemeinden in Deutschland. Diese Zahl stieg nach dem Fall der Mauer am 3. Oktober durch den Zuzug von Jüdinnen und Juden aus Mittel- und Osteuropa. Der Zentralrat rief immer wieder die etablierten Gemeinden zur Integration und zur Hilfe für die neuen Mitglieder auf. Wer heute einen Jüdischen Gemeindetag, eines der jährlichen Jugendtreffen besucht oder an einem Chanukkaabend für Senioren teilnimmt, erlebt ein gemischtes und oft mehrsprachiges Publikum. Trotz aller Unterschiede sind es Gemeinschaften.

Eine Stimme, die gebraucht wird

Zum Jubiläum würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Zentralrat als "bedeutsame Stimme, die gebraucht und die gehört wird". Jüdisches Leben habe sich im Lande in den vergangenen Jahrzehnten "in seiner ganzen Vielfalt" entwickelt. Aber auch Steinmeier betont die andauernde und gegenwärtige Bedrohung. Heute, sagt Schuster, sei ein "selbstbewusstes Judentum, ein selbstbewusstes jüdisches Leben" wichtig. Sie sollten selbstverständlicher und integraler Teil der Gesellschaft sein. Zwei Projekte, die der Zentralrat vorangetrieben hat, stehen beispielhaft dafür: In wenigen Monaten geht die jüdische Militärseelsorge in der Bundeswehran den Start. Alle gesetzlichen Hürden dafür sind bewältigt. Und in der Innenstadt von Frankfurt am Main beginnt der Bau für eine Jüdische Akademie, die bundesweit ausstrahlen soll.

Berlin Gedenken Pogromnacht 1938 Merkel in der Synagoge
Bundeskanzlerin Angela Merkel sucht den Kontakt während der zentralen Gedenkveranstaltung vom Zentralrat der Juden im November 2018 zum 80. Jahrestag der Pogromnacht von 1938Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Derzeit steuert die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf ein noch größeres Jubiläum zu. 2021 geht es um 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Der Zentralrat wird dafür sorgen, dass es um Geschichte wie um Gegenwart und Zukunft gleichermaßen geht.

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