75 Jahre nach Hiroshima
4. August 2020Auf dem Bürgersteig einer schmalen Straße in der Stadtmitte von Hiroshima markiert eine unscheinbare Gedenktafel das Hypozentrum. Über dieser Stelle in 580 Meter Höhe zündete am 6. August 1945 die erste im Krieg eingesetzte Atombombe. Das historische Foto auf der Tafel zeigt das völlig verwüstete Stadtzentrum. Von der Tafel bis zu den Gebäuden der Forschungsstiftung für Strahlenwirkung sind es nur zwei Kilometer Luftlinie. Dort lagern über eine Million eingefrorene Blut-, Plasma- und Urinproben von 20.000 überlebenden "Explosionsopfern", den Hibakusha.
Die Zahl der Teilnehmer an dieser Langzeituntersuchung ist aufgrund der fortschreitenden Alterung inzwischen auf 3.000 geschrumpft. Überdurchschnittlich viele Hibakusha (Titelfoto) erkrankten an den Folgen der Verstrahlung, vor allem an Krebs, aber auch an Infarkten und Depressionen. "Die Waffe von 1945 wirkt jetzt schon seit 75 Jahren", meint der Arzt Osamu Saito aus Hiroshima, der viele Strahlenopfer betreute. "Die Überlebenden tragen diese Folgen in ihrem Körper und ihrer Seele."
Verteilte Radioaktivität
Ortswechsel: In der Kleinstadt Futaba wenige Kilometer vom AKW Fukushima Daiichi hebt ein Kran schwarze Plastiksäcke auf das Förderband einer Aufbereitungsanlage. Jeder Sack enthält einen Kubikmeter radioaktiv kontaminierte Erde und Gras, die nach dem Reaktorunfall von den Feldern und Gärten der damaligen Sperrzone abgetragen wurden. 14 Millionen solcher Säcke warten auf ihre Wiederaufarbeitung. Strahlt die gesiebte Erde nur wenig, will der Staat sie überall in Japan für den Anbau von Pflanzen für Biomassekraftwerke und bei öffentlichen Bauten wie Straßen verwenden.
Über 3000 Bürger kritisierten diesen Plan des Umweltministeriums. "Die Strahlung wird über das ganze Land verteilt", empörte sich jemand. Im März 2011 hatten Wasserstoffexplosionen in den Reaktoren 168 Mal so viel strahlendes Cäsium wie eine Atombombe der Hiroshima-Stärke freigesetzt und 1100 Quadratkilometer unbewohnbar gemacht. Dadurch verloren 120.000 Menschen ihre Heimat.
Neue Gruppe von "Strahlenopfern"
Die Atomkatastrophe hat das alte Strahlungstrauma der Atombomben aufgefrischt. Eine neue Gruppe von Hibakusha entstand. Wieder werden Japaner wegen ihrer Verstrahlung ausgegrenzt, in der Schule gemobbt, finden keine Arbeit und keine Partner. Die evakuierten AKW-Anwohner stünden unter dem "Bann der Strahlendosis", meint der 73-jährige Arzt Saito, der seit einigen Jahren wieder in seiner Heimat Fukushima arbeitet. Zwar ließen sich bei ihnen bisher keine eindeutigen Gesundheitsschäden feststellen. "Aber ihre emotionale Verunsicherung ist so stark, dass sie das Risiko der erhaltenen Strahlendosis nicht nüchtern betrachten können", erklärt Saito.
Eine weitere Parallele zwischen Hiroshima und Fukushima sehen die Hibakusha im hartherzigen Umgang der Behörden. "Beim Atomunfall und bei den Atombomben haben wir der Regierung gesagt, sie soll die Strahlenfolgen wissenschaftlich untersuchen, aber sie hat diese Aufgaben an die lokalen Behörden delegiert und informiert darüber nicht", sagt Terumi Tanaka, der die Nagasaki-Bombe als 13-Jähriger überlebte. "Also wissen wir jetzt nicht, was das radioaktive Material in unseren Körpern macht", meint Tanaka, lange Zeit der Generalsekretär der Hibakusha-Organisation Nihon Hidankyo.
Missachtete Hibakusha
Zwölf Jahre brauchte der Staat, um im Medizingesetz von 1957 die Existenz der Hibakusha anzuerkennen. Bei den Untersuchungen im Vorgängerinstitut der Forschungsstiftung fühlten sich viele Explosionsopfer wie "Versuchskaninchen" behandelt. Kein Regierungschef erhob jemals die Stimme gegen ihre Diskriminierung. Die staatliche Großzügigkeit hält sich in Grenzen.
Zwar brauchen anerkannte Hibakusha die Selbstbeteiligung für medizinische Behandlungen nicht zu bezahlen und bekommen knapp 300 Euro monatlich, wenn sie an einer von elf bestimmten Krankheiten leiden. Aber eine Sozialhilfe von 1200 Euro erhalten sie nur, wenn ihre Leiden eindeutig auf die Strahlung zurückzuführen sind. Dafür müssen viele vor Gericht gehen. Jedoch werden vier von fünf Klagen abgewiesen.
Der Staat habe auch die Gesundheitsgefahr durch den Fallout beim "schwarzen Regen" nach den Atombomben ignoriert, berichtet der Teilchenphysiker Shoji Sawada, ein emeritierter Professor der Universität Nagoya, der diese Verstrahlung als erster neu bewertete. "Die Regierung schweigt wegen der USA, die nicht zugeben wollen, dass der Fallout ihrer Atombombentests Leute verstrahlte", meint Sawada.
Grenzwert angehoben
Auch die Menschen in Fukushima bleiben unter dem Bann der Radioaktivität. Die Eltern von 300.000 Kindern bangen, weil unter ihnen die Rate an Schilddrüsenkrebs ungewöhnlich hoch ist. Die Behörden erklären dies als Effekt der Massenuntersuchung, ein Argument, das auch der deutsche Nuklearmediziner Christoph Reiners unterstützt. "Man hat die gleiche Untersuchung in entfernten Gebieten gemacht und die gleiche Häufigkeit der Veränderungen gefunden", sagt Reiners im Video-Interview. "Die vermehrten Fälle gehen also auf das intensive Screening zurück."
Die Regierung hat auch zwei Drittel der Sperrgebiete nach einer Dekontaminierung wieder freigegeben. Dafür hob man den zulässigen Grenzwert auf 20 Milli-Sievert jährlich an. Dabei beruht der Standardgrenzwert von einem Milli-Sievert zu großen Teilen auf der Forschung an den Hibakusha von Hiroshima und Nagasaki. Denjenigen Evakuierten, die nicht in diese Zonen zurückkehren, wird die monatliche Finanzhilfe gestrichen. Der Arzt Saito sieht nur einen Weg, damit die Strahlenwunden seines Landes heilen: "Der Staat muss sich für Atombomben und Reaktorunfall entschuldigen und alle Betroffenen voll entschädigen – das ist das Minimum."