800 Millionen zur Parlamentswahl aufgerufen
6. April 2014814 Millionen Inder sind zur Stimmabgabe aufgerufen, eine größere Zahl als die Bevölkerung Europas. 100 Millionen von ihnen sind Erstwähler. Sie werden nach Ansicht des Politologen CRS Murthy von der Jawaharlal Universität in Neu Delhi den Ausschlag geben. "Die Jugend hat auf dem Land wie in den Städten in Indien eine noch nie dagewesene politische Bedeutung erlangt." Das spiegele sich auch im Wahlkampf der Parteien wider, der sehr stark auf die jugendliche Zielgruppe zugeschnitten gewesen sei. Hierbei hätten erstmals auch soziale Netzwerke eine größere Rolle gespielt. Die digitalen Medien erhöhen nach Ansicht Murthys das Potential für eine stärke politische Beteiligung der Jugend in Indien.
Andererseits ist Politikverdrossenheit in Indien weitverbreitet. Eine Tatsache, der erstmals der NOTA-Knopf bei elektronischen Wahlmaschinen Rechnung trägt. Damit kann der Wähler, die Wählerin "keinen der genannten Kandidaten" ("none of the above") anklicken.
Themen Korruption und Sicherheit für Frauen
Die derzeit regierende Kongresspartei hat mit Unterbrechungen 40 Jahre lang die Regierung in Indien seit den ersten nationalen Wahlen 1952 gestellt. Seit den 80er Jahren hat die hindu-nationalistische BJP die Rolle der Oppositionspartei übernommen, von einigen Jahren in der Regierungsverantwortung abgesehen. Diesmal ist als dritte Kraft die populistische Aam-Aadmi-Partei ("Partei des Normalbürgers") hinzugekommen. Sie hat der Korruption den Kampf angesagt und eine starke Anhängerschaft in den Städten.
Neben der Korruption ist die Sicherheit der Frauen ein dominierendes Thema bei den jungen Wählern der Mittelschicht. Die Medien des Landes haben die Regierung unter Führung der Kongresspartei massiv wegen Untätigkeit kritisiert. Erst durch die öffentliche Empörungswelle nach der brutalen Vergewaltigung einer Studentin im Dezember 2012 sei die Regierung in Sachen Frauenrechte aktiv geworden, so der Vorwurf.
Religion und Kastenwesen scheinen bei dieser Wahl eine geringere Rolle als früher zu spielen. So stellte BJP-Spitzenkandidat Narendra Modi die Wirtschaftsentwicklung des Landes in den Vordergrund seines Wahlkampfes. Er verspricht zehn Millionen neue Jobs, wenn seine Partei an die Macht kommt. Auf Modi lastet der moralische Vorwurf, 2002 nicht gegen Gewaltexzesse zwischen Hindus und Muslimen eingeschritten zu ein. Modi war damals – und ist bis heute – Chief Minister des Bundestaates Gujarat, Schauplatz der Pogrome, denen über 900 Menschen, überwiegend Muslime, zum Opfer gefallen waren. "Modi und die BJP sind schlau genug gewesen, sich ausschließlich auf die Wirtschaftsentwicklung zu fokussieren", sagt der politische Beobachter Purushottam Agrawal. "Die Frage nach der Verantwortung für das Massaker von 2002 liegt unausgesprochen immer in der Luft, insofern war es nur klug von ihm, das Thema nicht anzusprechen."
Personalisierung des Wahlkampfes
Die BJP hat mit einer extremen Personalisierung ein neues Element in den indischen Wahlkampf eingeführt. Der Wahlkampf ist zum Kampf zwischen Narendra Modi und Rahul Gandhi, Sohn des früheren Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi und Spitzenkandidaten der Kongresspartei, geworden. Das Image der beiden Kandidaten ist wichtiger als Parteiprogramme. "Die BJP versucht schon länger, in Indien einen Wahlkampfstil nach dem Vorbild amerikanischer Präsidentschaftswahlen einzuführen, insofern kommt ihr der jetzige Wahlkampf entgegen", sagt Purushottam Agrawal.
Besorgniserregend für die Kongresspartei ist, dass ihr Kandidat Rahul Gandhi sich als wenig zugkräftig erweist. Er verfügt nicht über die Ausstrahlung seiner Vorgänger in der Gandhi-Dynastie und fühlt sich im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit sichtlich unwohl. Allerdings spielt das Drama des Wahlkampfs möglicherweise nicht die entscheidende Rolle. "Die eigentlich spannende Phase beginnt am 16. Mai, wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden", sagt CRS Murthy. Denn dann könnte sich zeigen, dass die indischen Wähler ihre Stimmen auf die verschiedenen Protest- und Regionalparteien verteilt haben, und dann beginnt die mühsame Suche nach einer tragfähigen Koalitionsregierung.