Politikverdrossenheit in Europa
19. März 2014Alexander Oslislo hat es zumindest schon einmal probiert mit der Politik, bei verschiedenen Parteien in seiner Heimatstadt Aachen: "Da sitzen überwiegend alte Leute, und die Art, wie die sich unterhalten, und die Strukturen - das ist alles ziemlich komisch für Jugendliche." Stattdessen ist der 20-jährige Student bei Greenpeace aktiv, schon seit fünf Jahren. Organisiert große Demos, zum Beispiel gegen umweltschädliche Kohlekraftwerke. Er war auch schon im Boot der Umweltorganisation auf der Nordsee unterwegs, um vor Ölkatastrophen durch Tankerunfälle zu warnen.
Engagiert - aber ohne Parteibuch
Junge Leute interessieren sich immer weniger für Politik und engagieren sich nur selten? Auf die überwiegend jüngeren Greenpeace-Aktivisten, die sich im Bonner Ökozentrum jede Woche treffen, trifft das kaum zu. Die 29-jährige Clarissa Figura, ebenfalls Studentin, findet es vor allem toll, dass jeder sich sofort einbringen kann: Sie selbst ist erst seit ein paar Monaten dabei und koordiniert schon eine eigene Gruppe. Ihr Thema: die Überfischung der Flüsse und Weltmeere. An Parteien schreckt sie vor allem ab, dass man sich erst mühsam hocharbeiten muss, bis man wirklich etwas bewirken kann: "Man fängt ganz klein an im eigenen Wahlkreis, und bis man dann als Kandidat aufgestellt wird und wirklich eine Stimme hat, dauert das eine sehr lange Zeit."
Junge Menschen wollen sich einbringen - aber eben immer seltener in der klassischen Parteiarbeit. Das ist auch die Erfahrung von Heiko Geiling, Politologe an der Uni Hannover. Er glaubt nicht daran, dass sich beispielsweise in Deutschland eine allgemeine Politikverdrossenheit breit macht: "Wenn man feststellt, dass 40 Prozent der Bevölkerung sich sozial, politisch oder wie auch immer engagieren, ist das ja ein ganz ermutigender Befund." Er stellt vielmehr eine zunehmende Verdrossenheit gegenüber Politikern fest: Viele seien unzufrieden mit der Art, wie Parteien sich nach außen präsentieren. "Wenn sich Parteien zur Wahl stellen, wirkt das auf viele wie ein Container: Man weiß nicht so richtig, was drin ist." Gerade junge Menschen seien immer weniger bereit, sich auf die oft mühsamen Debatten und Machtkämpfe in einer Partei einzulassen: "Sie wollen um etwas kämpfen und auch gleich Ergebnisse sehen."
Parteien ohne Zukuft?
Vor allem etablierte Parteien in Deutschland haben Nachwuchssorgen: Die Zahl der Parteimitglieder sinkt, gleichzeitig werden sie im Schnitt immer älter. Vor 30 Jahren war zum Beispiel in der SPD noch jedes dritte Mitglied unter 35, heute ist das weniger als jedes zehnte.
Für Heiko Geiling liegt das aber auch an den Parteien selbst: "Mein Eindruck ist, dass das politische System, oder besser ihre Repräsentanten abblocken." Wahlplakate mit Slogans, die nichts aussagen, Politiker, die den Wähler mit auswendig gelernten Sätzen abspeisen - all das sei kaum geeignet, um Menschen für die Arbeit in Parteien zu begeistern.
Das macht sich auch bei der Wahlbeteiligung an den Europawahlen bemerkbar: 1979 gingen noch fast 63 Prozent aller Bürger der damaligen Mitgliedstaaten wählen, bei der Europawahl 2009 waren es nur noch gut 43 Prozent bei deutlich mehr EU-Ländern.
NSA-Skandal? Eurokrise? Nie gehört...
Dem Politikwissenschaftler Robert Verkamp macht all das große Sorgen. Für ihn ist aber weniger entscheidend, ob bei Wahlen nun jeder fünfte oder jeder vierte Bürger zu Hause bleibt: Denn im europäischen und internationalen Vergleich steht Deutschland da gar nicht so schlecht da. Problematisch findet er, dass es eine bestimmte Gruppe von Menschen gibt, die überhaupt nicht mehr wählen geht: "Die Nichtwähler, mit denen wir es zu tun haben, sind Menschen, die sich aus der aktiven Teilhabe an der Demokratie verabschiedet haben," erklärt er.
Die Ergebnisse einer Studie, die er für die Bertelsmann Stiftung erstellt hat, sind eindeutig: Es gibt ihn nur selten, den Nichtwähler, der aus Protest seine Stimme verweigert, um ganz bewusst ein politisches Zeichen zu setzen. "Diejenigen, die zunehmend ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen, sind sozial schwach und haben wenig Bildung." Er hält es für gefährlich, wenn sich dieser Teil der Gesellschaft mehr und mehr aus dem politischen System verabschiedet, und befürchtet, "dass wir eine sozial gespaltene Demokratie bekommen in Deutschland". Denn wer nicht wählen geht, der interessiert sich oft einfach überhaupt nicht für Themen wie den NSA-Skandal oder die Eurokrise.
Abgekoppelt vom politischen Leben
Und er bringt sich meist auch nirgendwo sonst in die Gesellschaft ein - weder als Elternvertreter in der Schule noch im Sportverein. Und das gilt auch für die junge Generation: Der Graben werde immer größer zwischen denen, die sehr aktiv am sozialen und politischen Leben teilnehmen und sich einmischen - wie die Bonner Greenpeace-Aktivisten - und denen, die davon ausgeschlossen seien: "Auch da sind es eher junge Menschen, die aus sozial schwächeren und wenig gebildeten Elternhäusern stammen." Das Interesse dieser Gruppe an der Politik zu wecken: Das ist aus seiner Sicht die eigentliche Herausforderung für die Gesellschaft.
Frischzellenkur für die Demokratie?
Der Soziologe Heiko Geiling zweifelt aber daran, dass das derzeitige politische System dafür geeignet ist. Die Bürger geben alle paar Jahre ihre Stimme bei Europa-, Bundestags- oder Landtagswahlen ab und überlassen dann alles weitere den gewählten Politikern. Das sei einfach nicht mehr genug. Er ist dafür, mehr Beteiligungsmöglichkeiten einzuführen, damit die Menschen gerade in den Städten und Gemeinden mehr mitreden können, wenn über Dinge in ihrem Umfeld entschieden wird - ob nun eine neue Brücke gebaut oder der Eintrittspreis im Schwimmbad erhöht werden soll: "Das wäre so etwas wie eine Auffrischungskur für unser repräsentatives System durch mehr Partizipation. Und das wird nicht nur die Demokratie, sondern auch die Parteien wieder stärken."