Macron mahnt Lehren aus Ersten Weltkrieg an
11. November 2018"Der Krieg ist zu Ende. In einer Stunde sollen wir abziehen. Wir brauchen nun nie wieder hierher. Wenn wir gehen, gehen wir für immer. Es ist ein sonderbarer Moment. Wir stehen beieinander und sehen nach vorn. Wer kann das begreifen? Da stehen wir und sollten lachen und brüllen vor Vergnügen - und haben doch ein flaues Gefühl im Magen." Diese Worte vom 11. November 1918 von Erich Maria Remarque, einem deutschen Infanteriesoldaten und Schriftsteller, verlas jetzt eine Schülerin aus einem Pariser Gymnasium am Triumphbogen in Paris. Dort hatten sich rund 60 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt versammelt, um an den Waffenstillstand zu erinnern, der vor genau 100 Jahren den Ersten Weltkrieg in Westeuropa beendete.
Vier Jahre lang hatten sich deutsche und alliierte Truppen in Frankreich und Belgien blutige Schlachten geliefert, in denen Millionen ihr Leben ließen. Jetzt waren die Deutschen besiegt. Bei Paris war der Waffenstillstand unterzeichnet worden. Um elf Uhr des elften November 1918 trat er in Kraft. Die Kirchenglocken in Frankreich läuteten in diesem Moment. In Paris gingen die Menschen auf die Straße und feierten.
"Nichts als Stille!"
Denise Brüller, eine junge Frau aus Paris, schrieb an diesem Tag an ihren Verlobten Pierre: "Hier läuten die Glocken ganz wild. Ich bin krank vor Glück. Ich kann nicht schreiben. Ich schluchze verzweifelt vor Freude. Niemals kann ich Dir meine Gefühle der überschäumenden Freude aufschreiben. Es ist ein unglaublicher Gedanke, dass jetzt niemand mehr sterben muss und die Front in ihrer ganze Länge still ist. Nichts als Stille!" Der Brief der Zeitzeugin wurde ebenfalls an diesem Sonntagvormittag von einer Schülerin am Triumphbogen am Grab des Unbekannten Soldaten verlesen.
Um klar zu machen, dass der "Große Krieg", wie er in Frankreich genannt wird, wirklich weltumspannend war und weltweit Folgen hatte, umfasste die Feier auch ein Lied der aus Benin stammenden Künstlerin Angélique Kidjo und Eindrücke eines chinesischen Arbeiters in Frankreich. Geschätzte 200.000 afrikanische Soldaten aus den französischen Kolonien, vor allem dem Senegal, kämpften in Europa oder an den Fronten in Afrika, wo die europäischen Kolonialreiche aneinander gerieten. "Wir haben noch eine Schuld gegenüber diesen Soldaten", sagte ein Berater aus dem Präsidentenpalast zur Rolle der sogenannten "schwarzen Armee".
Selbst vom anderen Ende der Welt, aus Australien, wurden von Großbritannien Truppen nach Europa geholt, um auf den Schlachtfeldern Europas gegen die Deutschen und ihre Verbündeten zu kämpfen. Einer der australischen Soldaten war ein Urgroßonkel aus der Familie von Lindsey McDonald. Der betagte Veteran, der selbst am Vietnamkrieg teilnahm, ist für diesen Tag extra mit seiner Tochter und seinem Sohn aus Brisbane nach Paris gereit, um die Parade zum Waffenstillstand zu sehen. Anschließend besucht er noch die Soldatenfriedhöfe und Schlachtfelder an der Somme in Nordfrankreich.
Die Parade französischer und alliierter Truppen wollte sich Jacqueline aus einem kleinen Dorf in Südfrankreich anschauen. Von der eigentlichen Feier sieht sie nur die Großbildschirme in der Ferne. Aus Sicherheitsgründen ist der sternförmige Platz um den Triumphbogen weiträumig abgesperrt. Jacqueline hält alte Fotos ihres Großvaters in der Hand, der den Krieg überlebte und vor 100 Jahren von der Front zurückkehrte. "Er hat mir manchmal vom Krieg erzählt. Als kleines Mädchen habe ich gar nicht so recht begriffen, worum es da ging. Heute wollte ich dabei sein."
Keine so direkte Verbindung zum Ersten Weltkrieg hat der junge Lorenzo le Duff aus der Bretagne. Lorenzo trägt eine blaue französische Uniform und einen Stahlhelm, wie die Soldaten vor 100 Jahren. Der Landschaftsgärtner sammelt Memorabilia des Ersten Weltkrieges. "Heute musste ich unbedingt dabei sein", sagt der junge Mann und posiert in seiner Uniform mit Schulklassen und Passanten für ein Erinnerungsfoto an der Prachtstraße Champs-Élysées.
Macron erteilt Nationalismus scharfe Absage
In kaltem Nieselregen ehrt der französische Präsident Emmanuel Macron am Triumphbogen die Armee und die Gefallenen. "Sie starben für die Freiheit und brachten das größte Opfer. Sie gingen durch eine Hölle, die wir uns nicht vorstellen können", sagte Macron. Er mahnte gleichzeitig, die richtigen Lehren aus dem Ersten Weltkrieg zu ziehen. "Patriotismus ist das Gegenteil von Nationalismus und Egoismus." Wer heute sage, 'mein Land zuerst', der zerstöre die Größe seiner eigenen Nation, sagte der französische Präsident wohl auch in Richtung des US-Präsidenten Donald Trump. Der folgte den Ausführungen mit versteinerter Miene. Leidenschaftlich rief Macron zu internationaler Zusammenarbeit auf. "Wir haben die Verantwortung folgenden Generationen eine bessere Welt zu hinterlassen."
Die Europäische Gemeinschaft und die Vereinten Nationen nannte Frankreichs Präsident als Zeichen der Hoffnung. Beide Institutionen werden von Donald Trump scharf kritisiert. Ausdrücklich hob Emmanuel Macron die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland hervor. Er forderte die versammelten Staats- und Regierungschefs auf, "die Brüderlichkeit zu entdecken." Der wahre Patriotismus sei die Liebe zum Frieden. "Lang lebe der Frieden!" schloss Macron seine Rede. Mit seinen Ausführungen zielte Macron wohl auch auf die populistisch-nationalistischen Tendenzen in vielen Staaten Europas und auf die bedrohliche Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Teile der Ukraine besetzt hält, und der ebenfalls zu den Staatsgästen am Triumphbogen gehörte.
Auseinandersetzung mit Trump
Zuvor hatte Macron im Élysée-Palast, seinem Amtssitz, Dutzende von Staats- und Regierungschefs begrüßt, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. US-Präsident Trump hatte sich bereits am Samstag unter vier Augen mit Macron getroffen. Dabei gab sich Trump versöhnlich, obwohl er seinem französischen Kollegen zuvor vorgeworfen hatte, mit seiner Forderung nach einer europäischen Armee auch die USA herauszufordern. Macron hatte in einem Interview gesagt, Europa könne sich nicht mehr auf die USA als Garant für die Sicherheit verlassen. Donald Trump hatte die NATO, die Militärallianz der westlichen Demokratie, mehrfach als "unfair" für die USA bezeichnet, die jetzt eine Außenpolitik nach dem Motto "Amerika zuerst" verfolgen. Vor 100 Jahren hatte Trumps Vorgänger Woodrow Wilson mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg das gegenteilige Signal ausgesendet und die internationale Rolle der USA als weltweite Ordnungsmacht begründet.
Beim gemeinsamen Spaziergang der Staats- und Regierungschefs unter schwarzen Regenschirmen am Triumphbogen fehlte Donald Trump. Ihm war bereits gestern das Wetter zu schlecht. Er hatte einen Besuch eines Soldatenfriedhofs wegen Regens abgesagt. Der russische Präsident Wladimir Putin stieß ebenfalls erst nach dem gemeinsamen Anmarsch zu den Festgästen. Trump und Putin begrüßten sich per Handschlag. Ein eigentlich vorgesehenes Gipfeltreffen der beiden findet in Paris nun doch nicht statt.
Zum Abschluss der Gedenkzeremonie trat der französische Präsident Emmanuel Macron mit Schülerinnen und Schülern an die ewige Flamme und das Grab des Unbekannten Soldaten, das 1920 unter dem Triumphbogen im Herzen von Paris errichtet wurde, um an den Ersten Weltkrieg zu erinnern. "Waffenstillstand bedeutete noch nicht Frieden", sagte Emmanuel Macron. In Osteuropa und im Nahen Osten dauerten die Auseinandersetzungen teilweise noch bis 1923 an. Neue Staaten entstanden, umstrittene Grenzen wurden gezogen. "Die Auswirkungen des Großen Krieges sind bis heute spürbar", so Macron.