Afghanistan: Frauen übernehmen Initiative
9. Juli 2024Wöchentlich organisieren sie friedliche Protestaktionen gegen die massiven Einschränkung der Freiheiten von Frauen in Afghanistan. Sie wollen das Bewusstsein der Gesellschaft für Bürgerrechte und Demokratie schärfen. Ihre Organisation, das "Purple Saturdays Movement", gründeten sie nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 in der Hauptstadt Kabul. "Wir können uns nur auf uns selbst verlassen", sagt die 30-jährige Mitgründerin des "Purple Saturdays Movement", Maryam Maroof Arvin, im Gespräch mit der DW.
Arvin gehört zu jenen Frauenaktivistinnen, die noch immer in Afghanistan sind und nicht aufgeben wollen. Sie und die Frauen in ihrem Netzwerk organisieren nicht nur Protestaktionen. Sie unterrichten heimlich Mädchen zu Hause, die ab der 6. Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen; sie sammeln Hilfe für alleinerziehende Frauen und bedürftige Familien; sie kümmern sich um Waisenkinder.
Auf sich allein gestellt
Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sind vor allem die vulnerabelsten Schichten der Gesellschaft auf sich allein gestellt. Fast alle Internationale Hilfsorganisation haben das Land verlassen, weil die Taliban Menschen- und vor allem Frauenrechte systematisch verletzten.
Seit August 2021 haben sie eine Reihe von Gesetzen und politischen Maßnahmen eingeführt, die Frauen und Mädchen im ganzen Land ihre Grundrechte verweigern – allein aufgrund ihres Geschlechts. Weibliche Angestellte wurden nach Hause geschickt, weiterführende Schulen für Mädchen geschlossen, Frauen wurde der Besuch von Universitäten untersagt.
Arvin hatte ihr Masterstudium noch nicht abgeschlossen, als die Taliban Frauen im Dezember 2022 den Zugang zu Universitäten verwehrten. Wie fast alle afghanischen Frauen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes, ist sie empört über die Vereinten Nationen und deren Initiative, mit den Taliban zu verhandeln, ohne eine Vertretung von Frauen dabei zu haben. "Wir wissen, dass sie wie bei dem Treffen in Doha Gespräche mit den Taliban suchen, um den Weg zur Anerkennung der Taliban-Herrschaft in Afghanistan zu ebnen. Sie ignorieren dabei das afghanische Volk und vor allem die Frauen", betont Arvin.
UN spricht mit Taliban
Auf Initiative der UN haben letzte Woche Vertreter der Taliban mit Diplomaten und Diplomatinnen von 25 Staaten und internationalen Organisationen in Doha über Afghanistans Zukunft beraten. Schon vor Beginn des Treffens in Doha betonte Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid, dass die Frage der Frauenrechte eine "interne Angelegenheit" Afghanistans sei und kein Thema in Doha sein werde. Andere Länder sollten die religiösen und kulturellen Werte Afghanistans anerkennen.
"Die Frauenrechte sind keine interne Angelegenheit Afghanistans", widerspricht die US-Diplomatin Rosemary DiCarlo im Gespräch mit der DW. DiCarlo ist UNO-Vizegeneralsekretärin für politische Angelegenheiten. "Wir wollten mit den Taliban ins Gespräch kommen und mussten irgendwo anfangen." Das Treffen sei ein erster Impuls gewesen, der darauf ausgerichtet sei, einen Schritt-für-Schritt-Prozess einzuleiten. Ziel sei es, dass die Taliban "mit ihren Nachbarn in Frieden leben und sich an das Völkerrecht, die UN-Charta und die Menschenrechte halten", betonte Rosemary DiCarlo.
"Die Taliban wissen, wie sie die internationale Bühne für sich nutzen", analysierte der afghanische Schriftsteller und Bildungsexperte Hazrat Vahriz noch vor dem Doha-Treffen. "Die Taliban beteiligten sich immer an Versöhnungsgesprächen, trafen sich sogar mit Ahmad Schah Massoud oder anderen Oppositionsgruppen in Turkmenistan vor der Machtübernahme im Jahr 2021", sagt Vahriz im Gespräch mit der DW weiter. "Man darf sie nicht unterschätzen. Sie haben erfolgreiche Diplomaten, die sich um nichts anderes kümmern, als darum, ihre Bedingungen durchzusetzen. In Afghanistan erwarten die Taliban, dass die Menschen ihre Untertanen sind und sie als Herrscher akzeptieren."
Sanktionen, Wirtschaftskrise, Armut
Die Taliban streben nach internationaler Anerkennung ihrer Regierung und setzen sich gleichzeitig für die Aufhebung der gegen sie verhängten Sanktionen ein. Ihr Ziel ist es, Zugang zu den von den USA eingefrorenen afghanischen Vermögenswerten zu erlangen. Afghanistan ist infolge eingefrorener Bankkonten, umfassender internationaler Sanktionen und der Abwanderung qualifizierter Fachkräfte in eine schwere wirtschaftliche Krise gestürzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Armut.
"Afghanistan ist nicht das einzige Land, in dem Menschenrechte verletzt werden", sagt Hazrat Vahriz und betont weiter: "Manche in Afghanistan glauben, dass es in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft liegt, Probleme zu lösen, die durch die Misswirtschaft und das Missmanagement unserer Eliten verursacht wurden. Dies wird nur passieren, wenn die Taliban nicht die Interessen mächtiger Länder bedrohen, insbesondere der Vereinigten Staaten und der westlichen Länder. Doch dazu wird es nicht kommen, weil die Taliban ihren Versprechen gegenüber Amerika treu bleiben werden. Die afghanische Bevölkerung muss selbst für ihre Forderungen eintreten."
An vorderster Front stehen dabei die Frauen. "Wir müssen unsere Kräfte bündeln", betont Maryam Maroof. Die Mitgründerin des "Purple Saturday Movement" appelliert an alle Menschenrechtsaktivisten, Intellektuellen und Andersdenkenden, eine Koalition zu bilden und den Widerstand gegen die Taliban innerhalb des Landes effektiver zu organisieren. "Wir setzen uns für eine legitime, demokratische und inklusive Regierung ein. Und wir müssen akzeptieren, dass wir uns dafür nicht auf diejenigen verlassen können, die Menschenrechte als Mittel nutzen, um sich selbst zu profilieren", sagt Frauenaktivistin Marood mit bitterem Blick auf die internationale Gemeinschaft.