Afghanistan: Lässt Deutschland bedrohte Menschen im Stich?
20. Dezember 2024Rückblick: Im August 2021 haben die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan zurückerobert - 20 Jahre nach ihrem Sturz durch eine von den USA angeführte internationale Militär-Mission. Tausende einheimische Ortskräfte, die unter anderem der deutschen Bundeswehr und humanitären Organisationen geholfen hatten, fürchten seitdem die Rache der Taliban. Bedroht sind aber auch Frauen und Männer, die den Machthabern aus religiösen Gründen oder wegen ihrer sexuellen Orientierung ein Dorn im Auge sind.
Viele gefährdete Menschen konnten auch noch nach dem Abzug der Bundeswehr evakuiert werden - aber längst nicht alle. Ihnen machte die Bundesregierung das Angebot, sie mit Unterstützung ziviler Organisationen nach Deutschland zu holen. Dafür wurde im Oktober 2022 das sogenannte Bundesaufnahmeprogramm gestartet. Davon sollten pro Monat 1000 Betroffene und ihre Familien profitieren.
"Wir handeln und erfüllen unsere humanitäre Verantwortung"
Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser erklärte damals: "Wir handeln und erfüllen unsere humanitäre Verantwortung." Im Vergleich mit anderen Ländern der Europäischen Union (EU) habe man mit Abstand die meisten Aufnahmen von ehemaligen Ortskräften und weiteren bedrohten Personen ermöglicht. "Diese Verantwortung übernehmen wir auch weiterhin", betonte die Sozialdemokratin (SPD).
Gemessen an den selbst gesteckten Zielen fällt die Bilanz gut zwei Jahre später ernüchternd aus: Die Aufnahme-Zusagen liegen mit insgesamt 3055 für einen Zeitraum von 25 Monaten weit unter dem angestrebten Niveau. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Bundestagsabgeordneten Clara Bünger von den Linken hervor. Tatsächlich in Deutschland angekommen sind nach offiziellen Angaben bislang sogar nur 864 (Stand: Ende November 2024).
Keine neuen Aufnahmezusagen
Einige hundert Ausreiseberechtigte sollen sich noch in Afghanistan aufhalten. "Weitere etwa 1900 Personen mit einer Aufnahmezusage befinden sich in Pakistan und erhalten dort Unterstützung durch die Bundesregierung", wurde der Linken-Politikerin schriftlich mitgeteilt. Für alle anderen, die noch immer auf eine sichere Zukunft in Deutschland hoffen, könnte es nun allerdings endgültig zu spät sein. Der Grund: Weitere Zusagen soll es nach Angaben des Innenministeriums im Moment nicht geben.
Diese Entscheidung wird mit Sicherheitsbedenken begründet. Offenbar befürchtet die Regierung, dass im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms für gefährdete Menschen aus Afghanistan potenzielle Terroristen einreisen könnten. Um das zu verhindern, wurden die Sicherheitsüberprüfungen verschärft: "Das ist aufwändig, dient aber dem Ziel, keine Islamisten oder Gefährder nach Deutschland zu holen", betonte ein Sprecher.
Auch Journalistinnen und Journalisten sind betroffen
Eine Gruppe von 26 Hilfsorganisationen hält den Kurwechsel für verheerend und fordert die Bundesregierung Anfang Dezember zur Umkehr auf: "Ein Abbruch des Bundesaufnahmeprogramms hätte fatale Konsequenzen für die Schutzsuchenden, von denen Tausende mitten im Verfahren in einer extrem prekären Situation zurückbleiben würden." Auch "Reporter ohne Grenzen" (ROG) hat den Appell unterschrieben. Die Organisation kümmert sich weltweit um bedrohte Menschen, die für Medien arbeiten und oft ihr Leben riskieren.
Afghanistan steht in der Rangliste der Pressefreiheit auf dem drittletzten Platz. "Das Ende des Bundesaufnahmeprogramms ist eine Hiobsbotschaft für afghanische Journalistinnen und Journalisten. Für viele Betroffene erlischt der letzte Funke Hoffnung, dem Taliban-Regime noch zu entkommen", kritisiert ROG-Geschäftsführerin Anja Osterhaus. "Damit hat die Bundesregierung nun endgültig ihr Versprechen gebrochen, höchst gefährdeten Menschenrechtsverteidigern eine Zuflucht zu bieten."
Michael Müller (SPD) kritisiert Bundesregierung
Alarmiert ist auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Müller, einst Regierender Bürgermeister von Berlin. Müller ist mittlerweile Vorsitzender der Afghanistan-Enquête-Kommission des deutschen Parlaments. Ihre Aufgabe ist es, Lehren aus der gescheitertem Militär-Mission zu ziehen und Empfehlungen für künftige Auslandseinsätze zu erarbeiten. "Ich finde die Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms sehr problematisch", sagte Müller der Deutschen Welle. Auch er hält es für einen Fehler, bedrohten Personen keine Aufnahme-Perspektive zu geben.
Die von Deutschland in Aussicht gestellte Größenordnung von Menschen, denen man helfen wollte, sei nicht annähernd erreicht worden, bemängelt Müller. Nun hofft er, dass die nächste Bundesregierung das Programm zur Rettung besonders gefährdeter Menschen in Afghanistan mit mehr Elan wiederaufnimmt. Die bislang regierende Koalition aus SPD, Grünen und Freien Demokraten (FDP) war Anfang November zerbrochen. Im Februar 2025 soll eine vorgezogene Bundestagswahl stattfinden.
Annalena Baerbocks Befürchtungen wurden bestätigt
"Ich hoffe sehr, dass eine neue Koalition anknüpft an das Aufnahmeprogramm und so ausstattet, dass tatsächlich noch mehr Menschen geholfen werden kann", sagte Müller. Besonders schlimm findet er die Situation für die mehr als 2000 Betroffenen mit einer Aufnahme-Zusage, die immer noch in Afghanistan oder im benachbarten Pakistan festsitzen. Sie warten oft schon seit vielen Monaten auf ihre Visa oder müssen sich weiteren Sicherheitsüberprüfungen unterziehen. "Die wissen nicht, in welche Richtung es weitergeht."
Im Rückblick ist offenbar das passiert, was die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) beim Start des Bundesaufnahmeprogramms im Oktober 2022 befürchtet hatte: "Zu erklären, dass wir Menschen aufnehmen, ist das eine - dafür zu sorgen, dass sie dann auch sicher aus Afghanistan heraus nach Deutschland kommen können, das andere. Es wird eine gemeinsame Kraftanstrengung, dass wir die Ziele auch erreichen, die wir uns gesteckt haben."