Afghanistan übt sich in der Kunst des Möglichen
5. Januar 2004Vor knapp vierzig Jahren bereits hatte der damalige König in Afghanistan eine Verfassung vorgelegt, die in ihren Grundzügen dem ähnelte, was die Delegierten der "Loya Jirga" – der großen "Volksversammlung" - nun nach drei Wochen streckenweise zäher Verhandlungen in Kabul abgesegnet haben. Es bleibt zu hoffen, dass jetzt erreicht werden kann, was bereits damals hatte erreicht werden sollen: Dass dieses traditionsreiche Land am Hindukusch den Anschluss findet an die Außenwelt, ohne sich freilich selbst dabei aufgeben zu müssen.
Afghanistan wird "islamische Republik" bleiben, aber mit einer Reihe von Modifikationen, sodass ein Rückfall in die mittelalterlich anmutenden Zeiten der Taliban nicht zu befürchten ist. Wer jedoch mehr erwartet hatte, der verkannte die Realitäten Afghanistans und der ignorierte auch die Notwendigkeit, dass ein solches Land schon selbst in eine bessere Zukunft finden muss und diese nicht von außen verschrieben bekommen kann. Das funktionierte unter der sowjetischen Besatzung nicht und das würde auch jetzt nicht funktionieren, wo die USA in Afghanistan zumindest hinter der Bühne die Macht ausüben.
Zwei Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regimes macht die Zustimmung – es war nicht einmal eine Abstimmung - der Delegierten den Weg frei. Aber übereilter Optimismus ist fehl am Platz, weil vieles nur auf dem Papier festgehalten ist, was sich in der rauen Wirklichkeit erst noch erproben und erweisen muss.
Die Gleichberechtigung der Frau etwa. Sie ist in weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft weiterhin Fiktion und um dies zu ändern, wird es sicherlich mehr bedürfen als eines Paragrafen der Verfassung. Es ist ein Fortschritt, dass die Ungleichstellung nicht mehr – wie unter den Taliban – erklärte Politik ist. Aber bis zur völligen Verwirklichung einer solchen Gleichberechtigung ist sicher noch ein weiter Weg. Wer wüsste das besser als Frauen in den "aufgeklärten" und freiheitlichen Demokratien des Westens…
Als gefährlicher Stolperstein bei der Umsetzung der Verfassung dürfte sich schon bald erweisen, dass weniger die Einheit als die Vielfalt der Afghanen unterstrichen wird. So wurden neben Dari und Paschtu, den beiden bisherigen Haupt-Sprachen des Landes – auch andere Sprachen anerkannt. Uzbeken und Turkmenen profitieren davon, es hat aber weniger kulturelle als machtpolitische Gründe, denn hiermit wird auch die Machtstellung der jeweiligen regionalen Herrscher untermauert. Und die war immer schon ein Haupthindernis auf dem Weg zu einem einheitlichen Staat mit einer gut funktionierenden Zentralregierung. Von diesem Ideal dürfte Afghanistan noch für einige Zeit entfernt bleiben. Vielleicht, weil das immer so war, sicher aber, weil die Verfassung dem Zustand nun auch kein Ende zu setzen versuchte.
Und natürlich auch, weil das Land keineswegs befriedet ist und die alten Herrscher längst wieder in einigen Teilen Fuß gefasst haben.
Mit einer Verfassung allein wird man das Gespenst der Taliban nicht vertreiben können, auch nicht das der wieder erstarkenden einstigen "Mujaheddin" – Führer. Hierzu bedarf es einer starken Zentralregierung. Und die soll Afghanistan bekommen. Aber in Form eines Präsidentialsystems, das Präsident Karzai weitreiche Machtbefugnisse zugesteht und jetzt schon das irgendwann einmal zu wählende Parlament zum Gummistempel für die Erlasse des Präsidenten reduziert. Zunächst einmal aber muss der Präsident gewählt werden und es besteht kein Zweifel, dass dieser Hamid Karzai heißen wird.
Demokratisch? Sicher nicht im westlichen Sinn. Aber dennoch ein Fortschritt. Länder im Nahen und Mittleren Osten - so meinte einst ein britischer Kenner der Region – könnten nicht direkt zur Demokratie übergehen. Sie brauchten die Zwischenstufe der Herrschaft eines "wohltätigen Autokraten". Mit einigem Glück hat Afghanistan jetzt diese Stufe erreicht…