Afrikas verlorenes Erbe
9. November 2021Es sind Kunstwerke von faszinierender Schönheit - filigran geschnitzte Throne, reich verzierte Türen, beeindruckende Statuen - und von großem symbolischen Wert. Jede der Statuen verkörpert etwa einen Monarchen des einstigen Königreichs Dahomey, so den mächtigen König Glélé als Löwenmann oder Dahomeys letzten König Béhanzin: halb Mensch, halb Hai.
In einem symbolträchtigen Akt gibt Frankreich nun diese Objekte zurück an das westafrikanische Benin, in dem das einstige Königreich Dahomey lag. Es ist die erste bedeutende Rückgabe Frankreichs an seine einstige Kolonie, seitdem diese 1960 unabhängig wurde. "Für beide Länder ist es ein historischer Moment", so die Kunsthistorikerin und Unternehmerin Marie-Cécile Zinsou im Gespräch mit der DW.
Zinsou ist Präsidentin der 2005 gegründeten Fondation Zinsou, die zeitgenössische Kunst in Afrika fördert und kulturelle und pädagogische Initiativen leitet. 2014 eröffnete sie zudem das erste Museum für zeitgenössische Kunst in Benin. Den aktuellen Rückgabeprozess hat sie eng verfolgt. "Ich bin sehr stolz, sowohl als Französin als auch als Beninerin. Ich bin stolz auf einen intelligenten Dialog, der schon seit langem unausgewogen war."
Kollektive koloniale Amnesie
Seit einigen Jahren geht ein Ruck durch die europäische Museumslandschaft, doch bis sich Europa überhaupt gesprächsbereit zeigte, war es ein langer Weg. Wie Benin kämpfen etliche afrikanische Staaten teilweise seit über einem Jahrhundert um die Rückgabe ihrer während der Kolonialzeit entwendeten Artefakte.
Das prominenteste Beispiel sind die Benin-Bronzen aus dem heutigen Nigeria. Die deutsche Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat die zweitgrößte Sammlung dieser unbezahlbaren Bronzen, die im Jahre 1897 von britischen Soldaten aus dem Königspalast in Benin City im Norden des heutigen Nigerias geraubt wurden. Anfang des Jahres hat sich Deutschland bereit erklärt, ab 2022 bedeutende Stücke aus seiner Sammlung an Nigeria zu restituieren.
Die Niederlande wollen ebenfalls Kunst restituieren, die zu Unrecht in ihren Besitz gelangt ist. Und auch Belgien zeigt sich gegenüber seiner einstigen Kolonie offen und übertrug Anfang des Jahres die Eigentumsrechte an einigen bedeutenden Stücken aus dem staatlichen Afrika-Museum in Tervuren an die Demokratischen Republik Kongo.
Derzeit "entwickelt sich die Situation in Europa und Afrika sehr schnell", stellt Kunsthistorikerin Zinsou fest. Neben der Restitution gebe es allerdings eine Entwicklung, die viel interessanter sei - und zwar der gezielte Wiederaufbau der Sammlungen in den Herkunftsländern: "In Kinshasa überlegen sie, was sie in ihrer nationalen Sammlung haben, wie sie ihre Geschichte zeigen und was ihnen fehlt. Und wenn ihnen Stücke fehlen, die in europäischen Sammlungen identifiziert wurden, dann stellen sie diese wieder her und fragen nach diesen Stücken", so Zinsou weiter.
In Gabun mache man das Gleiche. "Wir sind dabei, neu zu denken. Es geht nicht um 'Gebt uns alles zurück, oder wir werden Krieg gegen euch führen!'. Das ist es ganz und gar nicht. Wir spielen hier nicht die Geschichte nach. Hier spielen wir die Zukunft."
Die Zukunft beginne mit Versöhnung und Versöhnung mit einer Entschuldigung, meint Bonaventure Ndikung, der ab 2023 das Berliner Haus der Kulturen der Welt leiten wird. "Mittlerweile wird das gemacht und es wird noch mehr gemacht werden", meint der kamerunische Kunstkritiker in Bezug auf die aktuelle Restitutionsdebatten zwischen Afrika und Europa. "Doch das sind Anfangsschritte, die muss man weitergehen."
Afrikas verlorenes Erbe
Experten schätzen, dass zwischen 80 und 90 Prozent von Afrikas kulturellem Erbe in europäischen Museen beziehungsweise in deren Depots liegen. Nur ein Bruchteil der Sammlungen wird oder wurde jemals ausgestellt. Doch wie konnte es dazu kommen?
Anfang des 20. Jahrhundert war in Europa die Blütezeit der sogenannten Völkerkundemuseen. Sie entstanden in Metropolen wie London, Paris und Berlin, aber auch in kleineren Städten - etwa das Linde-Museum in Stuttgart. Zwischen diesen ethnologischen Museen entbrannte ein regelrechter Wettkampf darum, wer sich die erstaunlichsten und wertvollsten Artefakte sichern konnte.
Im Falle der prominenten Benin-Bronzen oder auch der Stücke aus dem einstigen Königreich Dahomey ist bestens dokumentiert, dass sie im Zuge militärischer Unterwerfung geraubt wurden. Doch es gab weitere Personen beziehungsweise Personengruppe, die dabei halfen, die europäischen Sammlungen zu füllen. Die ersten Afrikareisenden waren Entdecker oder vielmehr Abenteurer, die ohne viel Gepäck den Kontinent bereisten und viele Objekte durch Tausch oder als Geschenk mit zurück nach Europa brachten. Dann gab es Wissenschaftler, die in den 1930er Jahren mit größeren Expeditionen in die Länder reisten.
Kunsthistorikerin und Afrika-Expertin Bénédicte Savoy sprach in ihrem Vortrag "Geraubtes Erbe - Wie afrikanische Kulturgüter in unsere Museen kamen", den sie 2019 in Leipzig hielt, von regelrechten "Razzien": "Sie [die Wissenschaftler] kamen in ein Dorf, haben die Türen des Autos aufgemacht und so viel wie möglich reingetan."
Eine weitere und sehr bedeutende Gruppe von "Sammlern" waren katholische und evangelische Missionare. In Deutschland gibt es heutzutage noch einige sogenannte Missionsmuseen, die über bemerkenswerte Sammlungen verfügen. Die Missionare hatten komplexe Methoden, um an die verschiedensten Objekte heranzukommen und verkauften diese auch an die großen Museen.
Generell lässt sich sagen: Wenn es ihnen gelang, die Bevölkerung eines Dorfs zu bekehren, nahmen sie als Beweis dafür die alten "Götzen" oder Fetische entgegen. "Das Militär kommt oft an Waffen ran und die Abenteurer an spektakuläre Skulpturen", so Savoy in ihrem Vortrag. "Die Missionare kommen an magische Kraftfiguren ran - an Kultobjekte, die ganz besonders heilig, ganz besonders schwer zu bekommen und deswegen auch sehr beliebt bei den Museen sind."
Das British Museum gibt sich bedeckt
Und dann gab es wieder Fälle, wo Kolonialbeamte der lokalen Bevölkerung Gegenstände ganz einfach wegnahmen - so geschehen beispielsweise mit der "Ngadji", einer Trommel, die der kenianische Stamm der Pokomo verehrt und die sich trotzt Restitutionsersuche weiterhin im British Museum befindet. Das Londoner Museum beherbergt überdies die weltweit größte Sammlung der eingangs erwähnten Benin-Bronzen. Nigeria fordert seit langem die Rückgabe der Artefakte und hat sich im Oktober 2021 erneut an das British Museum gewandt.
Dort gibt man sich bedeckt. Die Interviewanfrage der Deutschen Welle wurde nur mit einem schriftlichen Statement beantwortet. Darin heißt es: "Das Museum versteht und erkennt die Bedeutung der Probleme im Zusammenhang mit der Rückgabe von Objekten an (...). Wir glauben, dass die Stärke der Sammlung des British Museum in ihrer Breite und Tiefe liegt, die es Millionen von Besuchern ermöglicht, die Kulturen der Welt zu verstehen und wie sie im Laufe der Zeit miteinander verbunden waren - sei es durch Handel, Migration, Eroberung oder friedlichen Austausch."
Angemessene Unterbringung der Artefakte
Der britische Kunsthistoriker John Picton, der sowohl für das British Museum als auch für die staatliche Museumskommission in Nigeria arbeitete, spricht im Interview mit der DW einen weiteren Punkt an, der immer wieder als Grund genannt wurde, von Rückgaben abzusehen: "Es gibt ein Problem, und das ist das Fehlen von Einrichtungen, um dieses Material angemessen unterzubringen. Nach meiner Meinung ist es einfach unverantwortlich, die Kunstwerke zurückzuschicken, ohne sich um eine ordnungsgemäße Lagerung, Sicherheit, Konservierung, Klimakontrolle und so weiter zu kümmern."
Zwar entstünde im nigerianischen Benin City das neue Edo Museum of West African Art, doch sei es viel zu klein, um dort alle Bronzen ausstellen zu können, so Picton weiter. Er schlägt vor, dass nur jene Bronzen restituiert werden, die sich ohnehin in den Museumsdepots befänden, so dass auch in Großbritannien weiter Kunst aus Subsahara-Afrika zu sehen sei.
Auch in Abomey, der einstigen Königsstadt des heutigen Benin, wird ein neues Museum gebaut - für die Kunstschätze, die von Frankreich zurückgegeben werden. Dort hofft man sehr, dass es nicht nur bei dieser ersten symbolträchtigen Rückgabe seitens der ehemaligen Kolonialmacht bleiben wird. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sein Land auf jeden Fall dazu verpflichtet, weitere Objekte aus kolonialem Unrechtskontext zu restituieren.
Nadir Djennad und Stefan Dege haben mit Interviews zur Entstehung dieses Artikels beigetragen.