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Ai Weiwei: "Die Menschen wollen ihr Leben zurück"

2. Dezember 2022

Der Künstler und Regimekritiker nennt Chinas Corona-Beschränkungen im DW-Interview "beispiellos in der Geschichte der Menschheit". Große Chancen gibt er der aktuellen Protestbewegung nicht.

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Der chinesische Künstler und Regierungskritiker Ai Weiwei steht vor einem großen Kunstwerk aus silbernem Draht.
Der chinesische Künstler und Regierungskritiker Ai Weiwei 2021 in PortugalBild: Pedro Fiuza/NurPhoto/imago images

"China wird nicht zum ersten Mal mit dem Coronavirus konfrontiert", so Ai Weiwei in dem schriftlich geführten Interview. Der Künstler lebt derzeit mit seiner chinesischen Frau und seinem Kind in Portugal. Dennoch habe das Land in den letzten drei Jahren mit strengsten Beschränkungen für menschliches Verhalten reagiert. "Das ist beispiellos in der Geschichte Chinas wie auch der gesamten Menschheit." China schränke so die Menschenrechte und die persönliche Autonomie der Menschen ein.

Menschen in weißen Anzügen auf den Straßen in China.
Chinesische Polizisten im Einsatz gegen Kritikerinnen und Kritiker der Corona-BeschränkungenBild: REUTERS

Die Proteste in vielen chinesischen Städten, die sich gegen die strikten Lockdowns richteten, seien "Versammlungen des Widerstands". Es seien Protestparolen skandiert worden. "Die Menschen wollen aus der Haft entlassen werden", urteilt Ai Weiwei, "sie wollen ihr normales Leben zurück."

In der Metropole Guangzhou gab es jetzt zwar eine vorsichtige Lockerung der Maßnahmen; dass die Proteste allerdings nachhaltig erfolgreich sein werden, glaubt der Künstler nicht: "Protest kann in China kaum erfolgreich sein, weil die Partei sich als Vertreterin der Interessen des Volkes betrachtet", konstatiert Ai Weiwei, "sodass es für sie so etwas wie Proteste des Volkes gegen sie nicht gibt."

Der Konzeptkünstler, Bildhauer und Kurator Ai Weiwei blickt selbst auf ein schwieriges Verhältnis zur Führung in Peking zurück. So war der Menschenrechtler und Dissident nach regierungskritischen Äußerungen während der Proteste in China 2011 mehrere Monate inhaftiert. Noch bis 2015 hatte er Reiseverbot. Anschließend verließ er das Land, lebte bis 2019 in Berlin, danach in England und seit 2021 in Portugal.

Weißes Blatt Papier: wichtigster Ausdruck der Proteste

Ai Weiwei Drifting

Die Protestierenden, so Ai Weiwei jetzt, hätten bisher keine Anführer. Es stünden keine Organisationen hinter den Demonstrationen, es gebe keine Agenda. "Es ist wie ein Teller mit losem Sand, wie wir in einer chinesischen Redewendung sagen." Ihren wichtigsten ideologischen Ausdruck fänden die Proteste in dem weißen Blatt Papier, das Protestierende hochhielten. "Das ist ein starkes Symbol", so Ai Weiwei, "denn es ist der Appell, die Stimme zu erheben und sich frei äußern zu können."

Das weiße, leere Papier ist nach Einschätzung des Berliner Kunsthistorikers und Medienexperten Michael Diers eine "relativ neue Erfindung" und zugleich ein "bewundernswert mutiges und einfallsreiches" Protestmittel. Diers hat mit "Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart" (1997) ein Standardwerk zur Sprache von Bildern veröffentlicht.

Weißes Papier zielt auf die Weltöffentlichkeit

Menschen halten mir Corona-Masken weiße Blätter Papier in die Höhe.
Ein starkes Symbol gegen die Sprachlosigkeit - Menschen halten, wie hier bei Protesten in Shanghai am 27. November, ein leeres weißes Papier hochBild: Hector Retamal/AFP/Getty Images

Diers verweist im Gespräch mit der Deutschen Welle auf eine Kriegsgegnerin, die bereits im März dieses Jahres im russischen Nischni Nowgorod mit einem leeren weißen Papier fotografiert und anschließend von Polizisten abgeführt worden war. "Ein Symbol wie das leere weiße Papier entsteht dann, wenn zuvor alle anderen Protestversuche gescheitert sind", so Diers. Die Aktion ziele immer auf die Kameras, Adressat sei immer die Weltöffentlichkeit. "Es geht um die Macht der Bilder."

Porträt von Michael Diers, der Kopfhörer um den Hals hat und zur Seite blickt.
Kunsthistoriker Michael DiersBild: privat

Das weiße Blatt Papier steht nach Einschätzung Ai Weiweis für Wortlosigkeit und Widerstand gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Die Abwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern aus der Kultur an der Seite der chinesischen Protestierenden verwundert ihn nicht: "Normalerweise sind Künstler und Schriftsteller allesamt Befürworter des Liberalismus." Diese stünden "standardmäßig" auf der Seite der Demonstrierenden. "Aber da das Regime in China die Meinungsfreiheit mundtot macht, ist es egal, wer neben den Demonstrierenden steht", so Ai Weiwei, "sie sind nicht zu sehen."