Algerien und Frankreich: Raus aus dem Krisenmodus?
2. Juni 2023Noch ist der Termin offiziell nicht festgelegt. Doch wenn der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune tatsächlich wie angekündigt (voraussichtlich Mitte Juni) nach Frankreich reist, dürfte er mit seinem französischen Amtskollegen Emmanuel Macron eine ganze Reihe schwieriger Themen zu erörtern haben. Zahlreiche Fragen im Verhältnis der beiden Länder sind weiterhin nicht gelöst, sowohl mit Blick auf die Vergangenheit wie auch auf die Gegenwart.
Erst im vergangenen Frühjahr hatten beide Länder wieder eine größere Krise zu lösen. Im Februar hatte sich die algerisch-französische Aktivistin Amira Bouraoui mit Hilfe der französischen Behörden auf dem Umweg über Tunesien aus Algerien abgesetzt und sich so einer drohenden Haftstrafe entzogen. Bouraoui ist für den algerischen Staat ein rotes Tuch: 2014 hatte sie aus Protest gegen ein viertes Mandat des damaligen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika die Bewegung Barakat gegründet. Als Bouteflika dann doch noch eine weitere Amtszeit antrat, half sie 2019, eine neue Protestbewegung, Moutawana, ins Leben zu rufen. Deren Wirken trug dazu bei, dass Bouteflika schließlich doch auf eine weitere Amtszeit verzichten musste und seinen Langzeit-Posten verlor.
2021 wurde sie zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Aufgrund einer Amnestie kam sie nach zwei Monaten wieder frei. Im Februar 2023 setzte sich Bouraoui dann nach Frankreich ab. Algerien betrachtete dies als Affront durch die französische Seite und rief aus Protest seinen Botschafter zurück. Zudem beschloss Algier, für Frankreich keine konsularischen Passierscheine mehr auszustellen. Diese sind für die Abschiebung in Frankreich nicht erwünschter "illegaler Einwanderer" unerlässlich.
"Bedauerliche Missverständnisse"
Ende März dann fanden sich Macron und Tebboune immerhin zu einem Telefonat zusammen. Man wolle "bedauerliche Missverständnisse" künftig vermeiden, hieß es anschließend diplomatisch. Ende März nahm der algerische Botschafter seine Amtsgeschäfte wieder auf.
Doch auch nach der "Affäre Bouraoui" bleibt das bilaterale Verhältnis schwierig. "Es fehlt nicht an heiklen Themen", schrieb auch die algerische Nachrichtenseite TSA im März. So setzten sich erst kürzlich namhafte französische Intellektuelle in einem offenen Protestbrief an den algerischen Präsidenten für die Freilassung des in Algerien inhaftierten Journalisten Ihsane El Kadi ein. Auch das EU-Parlament fordert seine Freilassung. Macron wird dieses Thema bei seinem Treffen mit Tebboune daher kaum ausblenden können.
Dauerthema Kolonialismus
Ein seit Langem immer wieder für Streit sorgendes Thema ist die Erinnerung an die von 1830 bis 1962 dauernde französische Kolonialherrschaft in Algerien, gipfelnd damals im Algerien-Krieg. Hier nehmen die Algerier Macron immer noch Äußerungen vom Oktober 2021 übel. Damals, im Vorfeld des 60. Jahrestages der algerischen Unabhängigkeit, hatte Macron dem Land im Maghreb vorgeworfen, eine "Erinnerungsrente" zu praktizieren. Gemeint war, dass Algerien die historische Schuld, die Frankreich durch seine Kolonialherrschaft auf sich geladen hat, konsequent für seine gegenwärtigen Interessen ausbeute. Ein weiterer Vorwurf lautete: Algerien behandele die Kolonialgeschichte als "Diskurs", der auf Hass gegen Frankreich beruhe. Algerien reagierte ähnlich harsch wie zuletzt bei der Aktivistin Bouraoui, zog für mehrere Monate seinen Botschafter zurück. Zudem verweigerte es französischen Militärflugzeugen die Flugrechte im algerischen Luftraum.
Trotz allen Streits und Ärgers sei die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit jedoch unumgänglich, meint dazu der Politologe Zine Ghebouli vom Think Tank European Council on Foreign Relations. Gerade die jüngere Generation der algerischen Bevölkerung dränge danach, sich mit dem Kolonialismus und seinen Folgen auseinanderzusetzen, hat er beobachtet. "Das mag zu einigen Spannungen führen. Aber es ist insbesondere aus algerischer Sicht ein notwendiger Prozess, der am Ende zu einem besseren Verhältnis zu Frankreich führen wird", so Ghebouli im Gespräch mit der DW. In diesem Sinne ist Frankreich zumindest um symbolische Aktionen bemüht: So übergab es Algerien 2020 die sterblichen Überreste von Opfern der französischen Kolonialherrschaft.
Das Thema ist für Frankreich freilich auch innenpolitisch von Bedeutung. So gab Paris erst im Mai bekannt, für die so genannten "Harkis" beziehungsweise ihre Familien und Nachkommen künftig mehr tun und diese finanziell stärker kompensieren zu wollen. Gemeint sind die seinerzeit rund 200.000 Algerier, die im Unabhängigkeitskrieg an der Seite Frankreichs gekämpft hatten. Viele waren damals nach Kriegsende einfach ihrem Schicksal überlassen worden und wurden von den neuen Machthabern massakriert, andere wurden nach erfolgreicher Flucht in französische Internierungslager gesteckt. Macron hatte bereits 2021 öffentlich um Entschuldigung für diese Vorgänge gebeten.
Herausforderung Migration
Für größere Zerknirschung im bilateralen Verhältnis hatte schließlich auch der Umstand gesorgt, dass Frankreich im September 2021 die Zahl der algerischen Bürgern erteilten Visa um die Hälfte reduzierte. Paris erklärte damals, es reagiere damit auf die Weigerung der Maghreb-Staaten, ihre von Frankreich abgewiesenen Staatsangehörigen zurückzunehmen. Erst im Dezember vergangenen Jahres nahm die Regierung in Paris diese Einschränkung wieder zurück. Zugleich verpflichtete sich Algerien, die illegale Einwanderung stärker einzudämmen.
Doch das Thema dürfte damit vermutlich nur vorübergehend vom Tisch sein. Zwar seien beide Staaten grundsätzlich an einer einvernehmlichen Regelung der Migration interessiert, sagt Experte Ghebouli. "Aber jedes Mal, wenn die Beziehungen beider Länder in eine angespannte Phase geraten, wirkt sich das auch auf den Umgang mit der Migration aus." Opfer des Zwists seien stets die Migranten selbst. "Lösen lässt sich dieses Problem nur, wenn beide Staaten zusammenarbeiten."
Gemeinsame Interessen
Bei allen Schwierigkeiten verfolgen Frankreich und Algerien aber auch gemeinsame Interessen. So wollen sie zusammen den militanten Islamismus (Dschihadismus) in der Sahelzone bekämpfen. Nachdem Frankreich im August vergangenen Jahres die letzten Soldaten seiner Militärmission "Barkhane" abgezogen hatte, fürchten beide Länder eine Ausbreitung des islamistischen Terrorismus in der Region.
Zugleich sieht Frankreich - wie auch andere europäische Staaten - Algerien nach dem russischen Angriff auf die Ukraine als potentiell wichtigen Energielieferanten. Tatsächlich ist das Land einer der weltweit größten Erdgas-Produzenten. Experten gehen von einer Menge von gut vier Billionen Kubikmetern Gasreserven aus. Zudem verfügt das Land über Erdölreserven von 1,5 Milliarden Tonnen. Probleme bereitet aber, dass die technische Infrastruktur des algerischen Energiesektors erheblich in die Jahre gekommen ist.
Probleme und Perspektiven
Zwar dürften Algerien und Frankreich gleichermaßen interessiert sein, ihr Verhältnis zu stabilisieren. Doch die Beziehungspflege, analysierte die französische Zeitung Le Monde schon vor einem Jahr, sehe sich vielen komplizierten Herausforderungen gegenüber. So fürchte Algiers Dauer-Rivale Marokko beispielsweise, dass eine Annäherung Frankreichs und Algeriens seine eigenen Ansprüche auf die Westsahara untergraben könnte. Um diese zu wahren, könnte auch Marokko Migration als Druckmittel einsetzen und sein Engagement bei der Kontrolle an den Grenzen zurückfahren, so Le Monde.
Auch Russland - für Algerien ein wichtiger Partner und führender Waffenlieferant - könnte hier als Hindernis ins Spiel kommen. Es dürfte kaum in Moskaus Interesse liegen, wenn Algerien künftig enger mit einem führenden europäischen Staat kooperieren sollte, der im Ukraine-Krieg die Regierung in Kiew unterstützt.
Umso mehr hänge nun vieles von dem Besuch Tebbounes in Frankreich ab, meint Algerien-Experte Ghebouli. "Der Besuch wird die künftigen Beziehungen erheblich prägen", meint er. "Er könnte die Zusammenarbeit beider Länder fördern. Läuft es aber schlecht, könnten die Beziehungen allerdings auch noch spannungsvoller werden als bislang schon."