Munro gewinnt
10. Oktober 2013Die Vorliebe des Nobel-Literatur-Komitees für Überraschungen ist bekannt. Das Überraschende an der Verleihung des diesjährigen Preises an Alice Munro bestand darin, dass die Gewinnerin eigentlich gar keine große Überraschung ist. Seit Jahren gilt die Kanadierin als Meisterin der Kurzform - für die Autorin und Kritikerin Cynthia Ozick ist Munro sogar ein "Tschechow unserer Zeit". So solide war Munros Ruf als Erzählerin, dass die englischen Wettbüros sie im Vorfeld zu einem der Hauptfavoriten machten.
Dennoch wird Munro - zumindest bis heute - öfter gelobt als gelesen. Das mag zum Teil daran liegen, dass die Verfasserin von 14 Bänden mit Kurzgeschichten nie einen eindeutigen Roman veröffentlicht hat. Zum anderen ist die 82-Jährige relativ öffentlichkeitsscheu. Sie konzentriert sich aufs Schreiben und ist kein Dauergast bei Talkshows, um zu jedem Thema ihre Meinung kundzutun.
Die jetzige Preisträgerin ist also eine Figur, bei der die literarische Qualität wieder in den Fokus rückt. Wer ist aber Alice Munro, und warum bekam ausgerechnet sie dieses Jahr den wichtigsten Literaturpreis der Welt?
Eine Tochter der nördlichen Provinz
Munro wurde 1931 im 3000-Seelen-Dorf Wingham im kanadischen Ontario geboren. Ihr Vater züchtete Füchse und Nerze, ihre Mutter war Lehrerin. Schon 1951 heiratete Munro und zog mit ihrem Mann in die Stadt Victoria an der kanadischen Westküste, wo die beiden einen Buchladen betrieben.
Munros Werk spielt meistens in der kanadischen Provinz, in der sie aufgewachsen ist, und ihre Erzählungen sind dementsprechend arm an großen Ereignissen. Die Hauptfiguren ihrer Erzählungen sind oft Mädchen oder junge Frauen, Munros Interesse gilt in erster Linie menschlichen Gefühlen sowie romantischen und familiären Beziehungen.
In einer Kurzgeschichtentrilogie aus ihrer 2004 veröffentlichten Sammlung Runaway (deutsch: Tricks) erzählt Munro die Lebensgeschichte einer Frau. In der ersten Erzählung lernt sie den Mann kennen, von dem sie ein uneheliches Kind bekommen wird. In der zweiten erfährt sie von der Trennung ihres Vaters und ihrer todkranken Mutter. In der dritten sucht sie Kontakt zu ihrer eigenen, jetzt erwachsenen Tochter, die von zu Hause geflohen ist.
Das klingt nicht nur ziemlich unspektakulär, es ist auch so. Außergewöhnlich ist dagegen Munros Fähigkeit, das emotionelle Befinden ihrer Protagonistin indirekt durch präzise beobachtete Details darzustellen. Nach Zeitgeist oder gewichtigen politischen Trends sucht man in Munros Werk vergeblich. Dafür findet man unheimlich scharf gezeichnete Porträts von einzelnen, oft einsamen und verstörten Menschen.
Eine eher unpolitische Wahl
Indem das Nobel-Komitee Munro auszeichnete, überging es ein paar bekanntere Romanautoren: den surrealistischen Japaner Haruki Murakami und Philip Roth aus den USA, in Literaturkreisen mit dem inoffiziellen Spitznamen "der Ewig-Verschmähte von Stockholm" bedacht.
Der Umstand, dass der Preis nie zuvor an eine kanadische Schriftstellerin gegangen war (1976 erhielt der US-Amerikaner Saul Bellow, der in Quebec geboren war, den Literaturnobelpreis), reizte sicherlich die Entscheidungsträger. Allerdings gehört die diesjährige Nobel-Verleihung zu den eher unpolitischen Wahlen.
Die beiden letzten Preise gingen an die obskuren Schriftsteller Mo Yan aus China und Tomas Tranströmer aus Schweden, deren Einfluss auf die Weltliteratur bestenfalls als mäßig zu bezeichnen ist. Die Ernennung Munros müsste selbst Beifall unter den anderen Hauptkandidaten auslösen, denn es besteht kein Zweifel, dass die Kanadierin ihr Handwerk versteht.
Gleichzeitig wollte das Nobel-Komitee möglicherweise dem Genre der Kurzgeschichte Respekt zollen, die oft im Schatten ihres großen Bruders, des Romans, existiert. Ob Munros Werk bedeutender als zum Beispiel das des Iren William Trevors ist, darüber kann man streiten. Keiner wird jedoch der jetzigen Preisträgerin ihren Status als Meisterin dieser Gattung absprechen wollen.
Mit der Auszeichnung Alice Munros hat das Nobel-Komitee 2013 auf die ganz große Überraschung verzichtet und eventuell eine Rückkehr zu traditionellen Maßstäben der literarischen Qualität signalisiert. Und das, würden wohl einige Literaturfans meinen, ist auch gut so.