"Fortschritt für die Frauen in Argentinien"
8. August 2018Deutsche Welle: Frau Schwarzer, in Argentinien findet derzeit eine hitzige öffentliche Debatte über eine mögliche Legalisierung von Abtreibungen statt. Mitte Juni hatte die Abgeordnetenkammer einen entsprechenden Gesetzentwurf mit knapper Mehrheit passiert. Jetzt befasst sich der Senat, das Oberhaus des argentinischen Parlaments, mit dem Gesetzentwurf. Was meinen Sie zu der Diskussion in Argentinien?
Alice Schwarzer: Ich denke, dass das ein entscheidender Fortschritt wäre für die Lage der Frauen in Argentinien. Denn eine selbstbestimmte Mutterschaft ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, für die Emanzipation der Frauen. Welches Elend das Verbot der Abtreibung über Millionen Frauen gebracht hat und bringt, wissen wir aus Argentinien ebenso wie aus Deutschland: Frauen, die ungewollt schwanger sind, treiben ab, unter allen Umständen. Ist die Abtreibung illegal, tun sie das gedemütigt und in Gefahr für Leib und Leben. Nicht zufällig ist der Kampf um das Recht auf Abtreibung in der westlichen Welt in den 1970er Jahren zum Auslöser der neuen Frauenbewegung geworden.
Wie sollte man mit den Abtreibungsgegnern umgehen?
In einem ersten Schritt sollte man versuchen, sie zu überzeugen. Ihnen klar machen, dass es dabei nicht darum geht, ob eine ungewollt Schwangere abtreibt, sondern wie: ob ohne schlechtes Gewissen und mit medizinischem Beistand – oder mit schlechtem Gewissen und in Lebensgefahr. Übrigens: Seit der Legalisierung der Abtreibung in Deutschland sind die Abtreibungszahlen drastisch gesunken und sinken immer weiter. Das hat damit zu tun, dass Frauen – nicht zuletzt dank der Frauenbewegung – aufgeklärter, unabhängiger und selbstbewusster sind als früher. Also werden sie auch seltener ungewollt schwanger. Das beste Mittel gegen Abtreibung ist die Emanzipation! Denjenigen, die sich von diesen Argumenten nicht überzeugen lassen, ist nicht zu helfen – wir müssen sie als unsere politischen Gegner verstehen und bekämpfen.
"Heute stehen die Zeichen hierzulande auf Rückschritt", ist derzeit in Ihrer Zeitschrift EMMA zu lesen. Woran erkennt man das? Und warum ist das so?
Die Bedrohung der Rechte, die wir Frauen in den letzten 40 Jahren errungen haben, kommt vor allem von religiösen Fundamentalisten. Egal, ob Christen oder Muslime: Sie alle haben als erstes die Frauen im Visier. Berufstätigen Frauen wird ein schlechtes Gewissen gemacht, sie sollen sich wieder vor allem um Kinder und Ehemänner kümmern. Und das Männerbild geht in Richtung starker Mann, autoritärer Herrscher. Im Weltmaßstab stehen dafür Staatschefs wie Trump und Erdogan. Beide verdanken ihre Wahlsiege den Fundamentalisten, christlichen wie muslimischen. Dieser Fundamentalismus ist auch und vielleicht vor allem eine Reaktion auf den Feminismus.
Wie stehen Sie zur Entwicklung der Me-Too Bewegung? Besteht in der Debatte auch ein Risiko, dass etwas, das keine sexuelle Belästigung ist, trotzdem als solche kategorisiert wird?
Jede gute Sache ist missbrauchbar. Und selbstverständlich kann es auch Falschbeschuldigungen geben. Aber diese raren Fälle stehen nicht im Verhältnis zu der epidemischen Anzahl von Fällen realer sexueller Demütigung und Gewalt. Die MeToo-Bewegung bricht aktiv ein Jahrtausende altes Tabu und ermutigt die Opfer, zu reden. Das ist existenziell. Die sexuelle Gewalt ist ja – neben dem Abtreibungsverbot – eines der zentralen Instrumente zur Einschüchterung und Brechung von Mädchen und Frauen.
Die Fragen stellte Maricel Drazer.
Alice Schwarzer ist eine deutsche Journalistin und Publizistin. Die Feministin ist Gründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma und eine der bekanntesten Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung.