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"All we imagine as light": Indische Frauen am Scheideweg

Elizabeth Grenier
19. Dezember 2024

Mit Bollywood hat der preisgekrönte Film, der jetzt in die Kinos kommt, wenig zu tun. Regisseurin Payal Kapadia erzählt von den Sorgen der Frauen, von Einsamkeit, Gentrifizierung und gesellschaftlichem Druck.

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Filmstill: Eine Frau im Sari hält sich an einer Stange fest
Die indische Schauspielerin Kani Kusruti überzeugt in ihrer Rolle als Prabha Bild: Fall Rapid Eye Movies

Noch nie wurde jemand aus Indien bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Großen Preis ausgezeichnet - bis Payal Kapadia kam. Die Regisseurin überzeugte die Jury mit ihrem Spielfilmfilmdebüt "All We Imagine as Light". Ihr poetisch-verträumter Film kommt jetzt jetzt weltweit in die Kinos, am 19. Dezember auch in Deutschland. Er könnte der meistverbreitete indische Independent-Film aller Zeiten werden.

In Indien selbst ist "All We Imagine as Light" schon jetzt ein großer Erfolg. "Wir sind sehr glücklich darüber", sagt Payal Kapadia. "Aber letzten Endes "ist es ein sehr kleiner unabhängiger Film", fügt sie bescheiden hinzu.

Das Arthouse-Werk erregt auch ganz ohne das geballte Marketing, das für Blockbuster betrieben wird, die internationale Aufmerksamkeit: Das britische Magazin "Sight and Sound" zum Beispiel kürte es zum besten Film des Jahres 2024 und nominierte es in den Kategorien "Beste Regie und "Bester nicht-englischsprachiger Film" für die Golden Globes.

Eine melancholische Hommage an Mumbai

Payal Kapadia hatte bereits mit "A Night of Knowing Nothing" (2021), einem abendfüllenden Dokumentarfilm mit fiktionalen Elementen, Preise bei den Filmfestivals in Cannes und Toronto gewonnen.

Payal Kapadia hält eine Urkunde und einen Preis hoch und lacht
Regisseurin Payal Kapadia 2024 als Gewinnerin bei den Filmfestspielen in Cannes 2024Bild: LOIC VENANCE/AFP

Ein dokumentarischer Hintergrund macht sich auch in "All We Imagine as Light" bemerkbar - am deutlichsten in der Eröffnungssequenz des Films. Bevor Kapadia die Protagonisten der Geschichte einführt, sieht man in Montageszenen Unbekannte, die im nächtlichen Mumbai ihren Geschäften nachgehen. Überlagert werden die Bilder von einem traumähnlichen Kaleidoskop aus Gesprächen in verschiedenen Sprachen, darunter Bengali, Bhojpuri, Gujarati, Marathi und nicht zuletzt Malayalam - die Sprache, die von den Hauptfiguren des Films gesprochen wird.

„All We Imagine as Light" porträtiert drei Frauen aus der Arbeiterklasse, die sich in einer der am dichtesten besiedelten Stadt Indiens zurechtfinden müssen. Alle drei sind aus dem Süden des Landes zugezogen.

Eine Frau in einem blauen Kittel lehnt sich gedankenverloren auf einem Stuhl zurück. Hinter ihr befindet sich ein Aquarium.
Schauspielerin Divya Prabha spielt in "All We Imagine As Light" die Rolle der AnuBild: Fall Rapid Eye Movies

Zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung in Indien (2011) hatte Mumbai 23,5 Millionen Einwohner; der Anteil der Zugezogenen an der Bevölkerung sowohl aus dem In- als auch aus dem Ausland lag bei 43 Prozent. Mumbai ist eine Stadt mit extremer Ungleichheit; Schätzungen zufolge lebt etwa die Hälfte der Bevölkerung Mumbais in Slums.

Sie habe versucht, in  ihrem Film ihre "Hassliebe" zu Mumbai zum Ausdruck zu bringen, so Kapadia gegenüber der DW. Die Regisseurin macht deutlich, wie die Anonymität der Großstadt den Frauen eine relative Freiheit bietet - insbesondere im Vergleich zu ihrem ländlichen Zuhause im südlichen Bundesstaat Kerala. Doch diese Unabhängigkeit wird mit langen täglichen Pendelwegen zur Arbeit und andere Entbehrungen erkauft.

"Mumbai ist eine Stadt, in der Menschen ständig umgesiedelt werden; sie werden verdrängt und landen in weit entfernten Ecken - alles, weil ein Viertel plötzlich einen Immobilienboom erlebt und die Menschen, die ursprünglich dort lebten, es sich nicht mehr leisten können, dort zu wohnen. Oder sie werden bezahlt, damit sie ausziehen", erzählt Payal Kapadia. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte habe sich die Skyline der Stadt komplett verändert. "Und das ist meiner Meinung nach das grundlegende Merkmal von Mumbai."

Liebesgeschichten als Basis für große Themen

In ihrem Film geht Kapadia auf mehrere Aspekte ein, die die indische Gesellschaft umtreiben - darunter Gentrifizierung, Patriarchat sowie Klassenunterschiede, die durch Kasten, Sprachen und Religion sichtbar werden. Aber die Filmemacherin drängt sich nicht mit einer Botschaft auf; stattdessen konzentriert sie sich darauf, die Erfahrungen ihrer Heldinnen in poetischen und subtilen Tönen zu vermitteln - eine Kinoerfahrung, die mit dem klassischen Bollywood-Prunk nichts gemein hat.

Im Mittelpunkt des Films stehen Prabha (Kani Kusruti), die Oberschwester eines städtischen Krankenhauses, und ihre jüngere Kollegin Anu (Divya Prabha); die beiden teilen sich auch eine Wohnung. Sie helfen ihrer frisch pensionierten Kollegin Parvaty (Chhaya Kadam), die von der Zwangsräumung bedroht ist, weil ihr verstorbener Mann keine Lust auf Papierkram hatte.

Die beiden Zimmergenossinnen haben auch mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Prabha ist eine zurückhaltende und einsame Frau. Ihr Mann hat sie verlassen, um in Deutschland Arbeit zu finden. Die quirlige Anu trifft sich in ihrer Freizeit mit ihrem Freund - eine Beziehung, die sie jedoch geheim halten muss. Ihre hinduistische Familie wurde es nämlich nicht gutheißen, dass sie mit einem muslimischen Mann zusammen ist.

Vier Frauen lachen in die Kamera
Payal Kapadia (mit ihrem Preis) und die drei Hauptdarstellerinnen des Films: Kani Kusruti, Chhaya Kadam und Divya Prabha (v. l. nach r.)Bild: Marechal Aurore/ABACA/IMAGO

Kapadia hat in ihrem Dokumentarfilm "A Night of Knowing Nothing" bereits eine ähnliche Situation geschildert. Darin geht um die Briefe einer Filmstudentin an ihren Ex-Freund, dessen Familie ihre kastenübergreifende Beziehung verboten hat.

Dass andere Menschen bestimmen, mit wem man zusammen sein und wen man heiraten dürfe, gehöre zum Alltag junger Menschen in Indien, erklärt Kapadia. "Das ist mir ein großes Anliegen, und ich benutze es in meinen Filmen als eine Art Mittel, um über noch größere Themen zu sprechen - aber mit etwas so Grundlegendem wie Liebe", sagt Kapadia.

In Deutschland verschwundener Ehemann

Der Film verrät nicht viel über Prabhas abwesenden Ehemann. Er hat Prabha kurz nach ihrer arrangierten Hochzeit verlassen und keinen Kontakt mehr zu ihr aufgenommen. Einzig ein Luxus-Reiskocher "Made in Germany" wird in ihre Wohnung geliefert. Das Geschenk ist das letzte Lebenszeichen, das sie von ihm bekommt.

Filmstill aus "All We Imagine As Light": Zwei Frauen betrachten neugierig einen Reiskocher
Prabha (links) und Anu untersuchen den Reiskocher, der ihnen ins Haus geliefert wurdeBild: Fall Rapid Eye Movies

Rechtlich gesehen, erklärt Kapadia, kann eine Frau in Indien die Annullierung ihrer Ehe erwirken, wenn ihr Mann für längere Zeit verschwunden ist. Aber Frauen reichen nur selten die Scheidung ein - auch Filmheldin Prabha nicht. "Die Frauenfeindlichkeit ist stark verinnerlicht", sagt die Regisseurin. Deshalb haben diese Frauen das Gefühl, dass "es besser ist, verheiratet zu sein als geschieden".

Kapadia hat Deutschland als Schauplatz gewählt, um Prabhas Ehemann verschwinden zu lassen, verrät sie, weil es dort keine große Malayali-Diaspora gibt. Malayalis aus Kerala gehen in der Regel in den Nahen Osten, um Arbeit zu finden. Dort wäre es für Prabha einfacher gewesen, den Ehemann über Bekannte ausfindig zu machen. 

Als Kapadia über die Szene mit der Küchenmaschine nachdachte, kam sie auf Deutschland, "weil es immer noch diese Vorstellung gibt, dass Geräte, die aus Deutschland kommen, irgendwie besser sind", sagt die Filmemacherin. 

Ein weiterer Bezug zu Deutschland 

Indische Frauen sitzen im Kino und schauen auf die Leinwand
Ablenkung vom Alltag: die Filmheldin im Kino Bild: Fall Rapid Eye Movies

Trotz der Erwähnung Deutschlands in dem Film kamen die Mittel für die Produktion von "All We Imagine as Light" aus anderen europäischen Ländern. Aber in gewisser Weise hat Deutschland dennoch eine Nebenrolle gespielt, als es darum ging, Kapadias Karriere zu starten und die französisch-indisch-niederländisch-luxemburgische Koproduktion zustande zu bringen.

Kapadias Kurzfilm "And What Is the Summer Saying" wurde 2018 bei der Berlinale uraufgeführt. Dort lernte sie ihre französische Produzentin kennen, die sie auch ermutigte, sich für das Berlinale Talents Programm zu bewerben - die Netzwerkplattform der Internationalen Filmfestspiele Berlin für aufstrebende Filmschaffende. 2019 trafen sich die beiden wieder und diskutierten ihre Vision vom Kino, als sie sich auf dem Festival gemeinsam Filme ansahen.

Eine weitere wichtige Initialzündung für Kapadias Weg zur Regisseurin war, dass sie Filme im Goethe-Institut anschauen konnte. Dort wurde sie durch das Experimenta-Festival auch auf experimentelle Arbeiten aufmerksam. "Dieses Filmfestival war sehr, sehr wichtig für mich", sagt sie. "Für mich, die ich als junge Studentin im College kaum Zugang zum Kino hatte, bedeuteten diese Orte wirklich viel."
 

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords