Als der "Kanzlerspion" Willy Brandt stürzte
24. April 2013
Es ist der Abend des 5. Mai 1974. Bundeskanzler Willy Brandt sitzt in seinem Wohnhaus auf dem Bonner Venusberg am Schreibtisch und formuliert: "Ich übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume und erkläre meinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers." Der Brief ist an Bundespräsident Gustav Heinemann gerichtet. Zwei Tage später nimmt Brandt seine Entlassungsurkunde entgegen.
Für viele Deutsche war dieser Dienstag ein schwarzer Tag, denn Willy Brandt stand durch seine Ostpolitik für eine neue Ära des Friedens und der Versöhnung in Europa. Doch der Rücktritt setzte auch den vorläufigen Schlusspunkt unter den berühmtesten Agenten-Krimi der deutschen Nachkriegsgeschichte: die Affäre Guillaume.
Zehn Tage zuvor, am 24. April 1974, war der "Kanzlerspion" in seinem Wohnhaus in Bonn festgenommen worden. 18 Jahre lang hatte der DDR-Agent Günter Guillaume unerkannt in der Bundesrepublik gelebt und sich bis zum Referenten von Willy Brandt hochgearbeitet. Ein ostdeutscher Spion im Zentrum der politischen Macht Westdeutschlands - das war ein immenser Erfolg für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, kurz Stasi.
Langfristig geplante Spionage
Die Spionage hatte System: "Der Fall Guillaume steht stellvertretend für die ost-westliche Spionage, weil er sehr schön zeigt, wie Spione im Westen geführt worden sind", sagt Eckard Michels. Der Historiker hat eine neue Biographie über den "Kanzlerspion" geschrieben, die im April 2013 erschienen ist. Die DDR habe die Spionage im Westen systematisch geplant, erklärt Michels: "Bei der Stasi hat man in langfristigen Perspektiven gedacht. Das heißt, man hat Leute oft übergesiedelt oder angeworben, als sie noch gar keine interessante Position hatten." Wie im Fall Guillaume dauerte es häufig Jahre, bis sich ein Agent auf einen wichtigen Posten hochgearbeitet hatte.
Rund 12.000 Stasi-Agenten waren zwischen 1949 und 1989 in Westdeutschland tätig, schätzt die deutsche Stasi-Unterlagen-Behörde, die für die Auswertung der Stasi-Akten zuständig ist. Geführt wurden die Spione von der Hauptverwaltung A, kurz HVA, dem Auslandsnachrichtendienst der DDR. "Die HVA war gegliedert in Abteilungen und Referate. Jedes Referat behandelte sozusagen eine politische Strömung, eine gesellschaftliche Gruppe oder eine Bundesinstitution der Bundesrepublik", schildert Michels.
Auftrag im Westen einfach "vergessen"
Die Unterwanderung von wichtigen gesellschaftlichen Bereichen in Westdeutschland war also straff und umfassend organisiert. Doch wie groß war der Erkenntnisgewinn, den die DDR durch ihre eingeschleusten Informanten erlangte? "Bei der politischen Spionage war der Schaden nicht so groß für die Bundesrepublik, weil die wesentlichen Entscheidungen sowieso im öffentlichen Raum verhandelt und gerechtfertigt werden müssen", erläutert der Historiker. Ein Ergebnis seines neu erschienen Buches: Die DDR-Spionage war weniger effektiv als in Deutschland allgemein angenommen wird. Michels: "Die DDR hat viele Spione in den Westen geschickt, doch diese Zahl ist zusammengeschmolzen wie Vanilleeis in der Sonne, weil der Westen das attraktivere Modell war, und sie darüber ihren Auftrag vergessen haben."
Auch umgekehrt wurde spioniert: Der Bundesnachrichtendienst BND und der Verfassungsschutz schickten jahrzehntelang Agenten in die DDR. Über dieses Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte ist bisher allerdings wenig bekannt. Ein Grund dafür liegt in der schwierigen Quellenlage: Viele Akten von BND und Verfassungsschutz sind immer noch geschlossen. Zudem sind die Akteure auf westdeutscher Seite zum Stillschweigen verpflichtet.
Kein James Bond im Kanzleramt
Für die Stasi-Agenten gilt diese Schweigepflicht nicht mehr, denn die DDR ist Geschichte. In selbst verfassten Memoiren bauschten manche ehemalige Stasi-Mitarbeiter die Ergebnisse ihrer Spionagetätigkeit auf. Auch Guillaume inszenierte sich nach seiner Haftentlassung in die DDR mit Unterstützung der ostdeutschen Führung als "Meisterspion". Eine Art "James Bond" im Kanzleramt war er aber nicht: "In dem wenigen, was er berichtet hat, stand weniger, als man aus einer kontinuierlichen Auswertung von Zeitungen hätte wissen können. Das kann man in dem Buch von Herrn Michels gut nachvollziehen", sagt der Historiker Bernd Rother von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Und ausgerechnet über einen solchen Mann sollte der Kanzler der Bundesrepublik stürzen?
Die von Guillaume an die DDR gelieferten Informationen rechtfertigten Brandts Rücktritt nicht. Diese These untermauert das neue Buch ebenfalls. Der Bundeskanzler übernahm nach der Enttarnung des "Kanzlerspions" die Verantwortung für die Fahrlässigkeiten anderer. Doch dieser Entscheidung ging ein Psycho-Krimi voraus, der sich in den Tagen zwischen Guillaumes Verhaftung und dem Rücktritt abspielte. Denn die tieferen Gründe für den Rücktritt lagen in einer Vermischung mehrerer Faktoren: "Im Hintergrund gab es schon vorher eine politische Krise", sagt Rother. Diese hatten zur Folge, dass Brandts Stern, die Zustimmung innerhalb der Bevölkerung zu seiner Kanzlerschaft, im Sinken begriffen war.
Der Brandt-Krimi
Ein weiteres Problem: Von der Vermutung, dass Guillaume ein DDR-Spion sein könnte, hatte Brandt schon Monate zuvor erfahren. Auf Anraten der Sicherheitsbehörden hatte er aber zugelassen, dass Guillaume im Amt blieb und er selbst als eine Art Lockvogel fungierte: "Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen", schrieb er später.
Schon kurz nach der Festnahme Guillaumes untersuchte das Bundeskriminalamt Brandts Privatleben, Gerüchte über Frauengeschichten sickerten durch und gelangten an die Medien. Es gab Befürchtungen, Brandt und mit ihm die Bundesregierung seien durch die Informationen Guillaumes erpressbar. Die Vermutungen erwiesen sich später als haltlos, doch in den ersten Maitagen des Jahres 1974 musste Brandt fürchten, sein ganzes Privatleben könne in den Schmutz gezogen werden.
Mangelnder Rückhalt an der SPD-Spitze
Spätestens jetzt begann er, einen Rücktritt ernsthaft in Erwägung zu ziehen. In der Nacht des 4. Mai 1974 fand das ausschlaggebende Gespräch zwischen Brandt und Herbert Wehner, dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, statt. Wehner sagte: "Ich trage jede Entscheidung mit, die Du triffst." Er forderte Brandt jedoch nicht auf, im Amt zu bleiben. Diese mangelnde Unterstützung an der SPD-Spitze sei der entscheidende Punkt gewesen, sagt Rother. Eckard Michels wiederum betont auch die Relevanz der privaten Gründe infolge der aufkommenden Verdächtigungen: "Das war sicherlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat."
In Nachhinein hat seine Entscheidung Brandt viele Sympathien und große moralische Integrität eingebracht. Sein Umgang mit der politischen Verantwortung gilt auch fast 40 Jahre später immer noch als beispielhaft: "In der Rückschau war es eine angemessene Reaktion", sagt Bernd Rother.
Brandts Rücktritt und die Guillaume-Affäre bleiben dennoch ein Treppenwitz der Geschichte: Ausgerechnet der Kanzler, der sich für die Annäherung der beiden deutschen Staaten eingesetzt hatte wie vor ihm kein anderer, wurde von einem DDR-Agenten zu Fall gebracht.
Eckard Michels: Guillaume, der Spion. 416 Seiten, Ch. Links Verlag; 1. Auflage 2013 , 978-3861537083