Amazon Go: Einkaufen ohne Kasse
18. Juni 2018Verstohlen greife ich in das Regal mit den Fruchtbechern und entscheide mich für eine Dose geschnittener Ananas. Ich stecke sie in meine Tasche, blicke mich um. Niemand hält mich auf, auch nicht der Amazon Go Mitarbeiter, der neben mir die Erdbeeren auffüllt.
"Du kannst gehen. Wirklich", steht über dem Ausgang. Dann will ich es wagen. "Danke für deinen Einkauf", ruft mir ein Mitarbeiter zu. Draussen steht eine Gruppe Touristen, die sich aufgeregt unterhalten. "Gruselig ist es schon, mit den ganzen Kameras an der Decke", sagt einer.
Das, was hier in Seattle noch getestet wird, soll bald die Zukunft des Einzelhandels sein. Das "Amazon Go" genannte Geschäft in Downtown ist bislang weltweit das einzige seiner Art. Es gibt weder Kassierer noch Selbstbedienungskassen.
Stattdessen stecken die Kunden einfach alles in ihre Rucksäcke und Tüten und verlassen das Geschäft, ohne Kontakt mit einem menschlichen Mitarbeiter gehabt zu haben. Einige Minuten nach Verlassen des Geschäfts erhalten Kunden eine Rechnung von Amazon auf ihre Smartphones.
Es fühlt sich an wie Ladendiebstahl
Das Einkaufen selbst fühlt sich natürlich an, finde ich. Es funktioniert zunächst nicht anders als in Supermärkten. Genau das sei auch das Ziel gewesen, sagt die Vize-Präsidentin des Unternehmens, Gianna Puerini, in einem Interview mit Yahoo. "Wir wollten nicht, dass Kunden etwas Neues lernen müssen."
Gewöhnungsbedürftig ist dagegen der Moment beim Verlassen des Geschäfts. Ich hoffe, dass all die Kameras und Sensoren gesehen haben, dass ich die Ananas eingesteckt habe.
Kameras und Sensoren statt Kassierer
Dahinter steckt ausgeklügelte Technologie. Um beim Offline-Amazon einkaufen zu können, musste ich vorher die Amazon Go App herunterladen. Beim Betreten des Geschäfts scanne ich einen Barcode mit meinem Handy ein. Das erinnert mich an den Check In am Flughafen mit mobilen Flugtickets. So weiß Amazon, dass ich mich im Laden befinde.
Ab da übernehmen Computer. Sie können durch Kameras und Sensoren jeden Kunden identifizieren und vermerken, was er aus dem Regal nimmt und auch, was er wieder zurück stellt. Die eingekauften Waren werden dann in einem virtuellen Warenkorb in der Amazon App vermerkt. Abgerechnet wird etwa fünf Minuten nach Verlassen des Ladens - genau wie bei einem Online-Warenkorb.
Mindestens zweimal steht ein anderer Kunde dicht neben mir. Einmal schaue ich mir eine Tafel Schokolade an, entscheide mich dagegen und stelle sie wieder zurück. "Die zentrale Frage, die unsere Technologie lösen muss, ist: Wer nimmt was aus dem Regal?", sagt Puerini. Das Prinzip funktioniere vor allem dank künstlicher Intelligenz. Die Technologie hinter dem Amazon Go Geschäft arbeite ähnlich wie die in fahrerlosen Autos. Genaueres will Amazon nicht verraten.
Warum Amazon Lebensmittel verkaufen will
Damit dringt der Onlinehändler weiter in die letzte Bastion des traditionellen Einzelhandels ein: den physischen Lebensmittel-Handel. Amazon will seinen Marktanteil bei Lebensmitteln ausbauen.
"Es gibt Güter, die Kunden nicht im Internet, sondern lieber im Laden kaufen", sagt Ajay Abraham, der an der Seattle Universität Marketing unterrichtet. Ich habe ihn gebeten, ein zweites Mal mit mir in den Amazon Go Laden zu gehen. Er deutet auf die Bananen. "Kunden wollen Lebensmittel wie Früchte und Gemüse auf Reife oder Qualität prüfen", sagt er.
Das hat Amazon erkannt, sagt Puerini. "Der physische Handel bietet den Kunden klare Vorteile." Im vergangenen August hat Amazon deshalb bereits die Supermarkt-Kette "Whole Foods" für 13,7 Milliarden US-Dollar gekauft. Mit Amazon Go will man nun das Erlebnis des echten Einkaufens mit der Bequemlichkeit des Online-Shoppings verbinden. Die App stoppt zudem die Zeit für den Einkauf. "So können die Kunden sehen, wie viel Zeit sie gespart haben", sagt Puerini.
Es spielt auch eine Rolle für Investoren
Amazon geht es aber nicht nur um die Kunden, sondern auch um die Anleger. Mit Amazon Go wolle der Onlinehändler einmal mehr zeigen, dass er die neuesten Technologien entwickelt, sagt Marketing-Fachmann Abraham.
Amazon-Gründer "Jeff Bezos wird seinem Ruf als Visionär gerecht", sagt Veronika Sonsev von der Unternehmensberatung Chameleon Collective. Das sei vor allem für Investoren wichtig. Amazon setze zudem neue Maßstäbe für andere Einzelhändler, sagt Jonathan Zhang, Marketing-Dozent an der University of Washington.
Die Konkurrenz holt auf, wenn auch mit einer nicht ganz so fortschrittlichen Technologie wie Amazon Go. Kaufhausketten wie Walmart und Macy's bieten Kunden vermehrt an, die Codes der Produkte im Kaufhaus mit ihrem Smartphone zu scannen. Genau wie bei Amazon Go werden diese dann in einem virtuellen Warenkorb gespeichert, den die Kunden nach Verlassen des Geschäfts mobil bezahlen können. Macy's beschäftigt aber nach wie vor Mitarbeiter, die am Ausgang überprüfen, ob alles in der Einkaufstüte auch gescannt wurde.
Folgen für den Arbeitsmarkt
All das hat Folgen für den Arbeitsmarkt. Knapp fünf Millionen Amerikaner arbeiten derzeit im Einzelhandel. Doch die Zahl der Stellen in der Branche sinkt seit Jahren, so das US-Statistikamt. Besonders hart hat es die Warenhäuser getroffen - auch, weil Kunden zunehmend online einkaufen.
Eine Technologie, die Kassierer überflüssig macht, könnte diesen Prozess nun zusätzlich beschleunigen. Doch Experten wie Zhang glauben nicht, dass dies in naher Zukunft flächendeckend passieren wird. "Dazu ist die Technologie noch nicht ausgereift", sagt er.
Vier Jahre hat Amazon an der Technik gefeilt, der erste Laden in Seattle öffnete ein Jahr später als geplant. Das Sortiment dort ist klein, die Ladenfläche beträgt nicht einmal 170 Quadratmeter. Mindestens sechs weitere Go-Filialen sollen folgen, unter anderem in San Francisco und Chicago. Und Investoren rätseln, ob Amazon die Technologie auch in den 479 Filialen seiner "Whole Foods"-Kette einführen wird.