"Amerika zerlegt sich selbst"
2. Juni 2020Die USA versinken in einer Welle von Gewalt. Von Kalifornien bis New York, von Minneapolis bis an die texanische Küste: In mehr als 75 Städten kam es in den vergangenen Tagen zu schweren Ausschreitungen. In New York City brannten Polizeiautos, in Los Angeles kam es zu Plünderungen. "Das sind keine Proteste mehr", sagte Eric Garcetti, Bürgermeister von Los Angeles. "Das ist Zerstörung."
Auslöser der Unruhen ist der gewaltsame Tod von George Floyd. Vergangenen Montag war der Schwarze bei einem Polizeieinsatz in Minneapolis getötet worden. Ein tragischer Fall, doch leider keine Ausnahmeerscheinung in Zusammenhang mit rassistischer Polizeigewalt in den USA. Längst sind Floyds letzte Worte - "I can't breathe" - zu den Parolen einer landesweiten Protestbewegung geworden, wie sie Amerika seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Trauer und Empörung sind Zorn und Gewalt gewichen.
Der tragische Tod Floyds nährt eine Grundsatzdebatte über die soziale Spaltung der USA. Wie ein Brandbeschleuniger wirkt dabei die Corona-Krise, die die Ungleichheit der Gesellschaft deutlicher als zuvor zu Tage fördert. Wer vor Ausbruch der Pandemie keinen ordentlichen Job hatte, eine vernünftige Krankenversicherung und ein finanzielles Polster, ist dem Virus schonungslos ausgeliefert.
Überdurchschnittlich oft betrifft das in den USA Schwarze und Latinos. Nicht nur ist die Infektions- und Todesrate unter ihnen höher. Sie, die einfachen Arbeiter, sind es vor allem, die ihren Job verloren haben. Die überwiegend weiße Mittelschicht wiederum hat es in den meisten Fällen lediglich ins Home-Office verschlagen, oft mit vollem Gehalt. Schonungslos offenbart die Pandemie Amerikas soziale Ungerechtigkeiten.
Diverse Probleme treffen aufeinander
"Ich glaube, dass das Land mit der schwersten Krise seit dem zweiten Weltkrieg konfrontiert ist", sagt der Bonner Politikwissenschaftler und USA-Experte Christian Hacke. Auf der einen Seite stehe die sichtbare Frustration über den Rassismus, der mit dem Tod Floyds wieder aufbreche und radikaler werde. Auf der anderen Seite der wirtschaftliche Niedergang und die innenpolitischen Probleme der USA. Dazu kommen unweigerlich die Folgen des Coronavirus, die immer mehr Amerikaner verzweifeln lassen. "Floyds Tod ist lediglich ein Funken, der das ganze Land zum Brennen gebracht hat", sagt Hacke.
Die Proteste offenbaren allerdings auch: Es sind nicht nur Schwarze, die ihren Frust in die Welt rausschreien. Unter den überwiegend jungen Demonstranten sind auch viele weiße, oft gut situierte Amerikaner, die mindestens ebenso frustriert sind. Frustriert über ein Land, das Polizeigewalt und Rassismus nicht verhindert, sondern gewähren lässt. Frustriert über ein Land mit einem provokanten Präsidenten an der Spitze - und ohne politische Alternative.
"Wenn Sie Joe Biden im Fernsehen sehen, wirkt er senil, wie festgetackert in seinem Keller. Fast hat man das Gefühl, er packt das alles geistig nicht mehr", sagt Hacke. In Kontrast dazu stehe Präsident Trump, der die Krise mit seiner Borniertheit verschärfe. Ein US-Präsident, der nicht eint, sondern das Land seit Amtsantritt spaltet, es belügt und an die niedersten Instinkte appelliert. Der Mord und die Unruhen beschleunigten zusätzlich die Transformation vom American Dream zum amerikanischen Alptraum. Hacke glaubt: "Amerika zerlegt sich selbst".
Wer profitieren könnte: Trump
Es ist kein neues Phänomen, diese brodelnde Wut der Amerikaner. Das sagt einer, der selbst jahrelang in den USA gelebt und sogar für Barack Obama Wahlkampf betrieben hat. Julius van de Laar engagierte sich 2007 und 2008 als hauptamtlicher Wahlkämpfer für den Demokraten. 2012 leitete er den Bereich Wählermobilisierung im wahlentscheidenden Schlüsselstaat Ohio. Schon damals sei die Gesellschaft polarisiert gewesen, Polizeigewalt und Rassismus waren ein Thema. Allerdings wurde die Diskriminierung Schwarzer selten so graphisch dokumentiert wie heute. "Plötzlich hat man die Übergriffe auf Video, die Szenen lassen keine Zweideutigkeit zu", sagt van de Laar. Das Bildmaterial wurde so plötzlich zur Speerspitze all jener Übergriffe, mit der Amerika seit Jahrzehnten kämpfe.
Präsident Trump wiederum spielt all das in die Karten. Er lebt davon, Amerikas Bürger gegeneinander auszuspielen. "Trump ist der erste Präsident, der sich nur als Präsident einer Seite versteht", sagt van de Laar. Statt ein Staatsoberhaupt für alle Amerikaner zu sein - egal ob schwarz oder weiß, arm oder reich - sorge er sich vor allem um seine überwiegend weißen Wähler, die ihm im November zu einer weiteren Amtsperiode verhelfen sollen.
Ablenkung mit Nebelkerzen
Sein Versagen in der Corona-Krise hat ihn zuletzt allerdings deutlich Punkte gekostet. Um davon abzulenken, werfe er jetzt gezielt mit Nebelkerzen, so van de Laar. Polarisieren, um Wähler zu mobilisieren: Das sei seine Strategie. Das Bittere daran, so Politologe Hacke: "Ich befürchte, dass er mit seiner Ablenkungsstrategie erfolgreich sein könnte". Die Amerikaner würden sich in Krisen traditionell um ihren Präsidenten scharen. Trump repräsentiere zudem viel Ur-Amerikanisches: das materielle, das egoistische, auch das rücksichtslose Freiheitsgefühl und eine weiße Arroganz, die leider mehr schweigende Zustimmung erfahre, als wir es uns in Europa vorstellen können, so Hacke. "Ich fürchte, dass sich viele Weiße in ihrem Rassismus bestätigt fühlen."