Heute in Kiel, morgen in Berlin?
4. Juni 2021Aminata Touré lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, auch nicht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Etwa eine Demonstration, mit der sie nicht gerechnet hat, gleich vor dem Landtag in Kiel. Dort fordern rund 70 Bürgerinnen mehr Geld für Frauenhäuser, also Orte, in denen Frauen mit und ohne Kind Schutz vor Gewalt finden.
Die Landtagsabgeordnete der Grünen bittet um Verständnis, verschiebt den Termin mit der DW. Touré möchte wissen, was genau die Demonstranten wollen, hört aufmerksam zu. Dann ergreift sie das Megafon einer der Frauen. Diese hat eben noch die Regierung in Kiel, an der die Grünen beteiligt sind, kritisiert. Touré hält aus dem Stehgreif eine Rede, beschwichtigt, verspricht zu helfen, versichert auf der Seite der Protestierenden zu sein. Und erntet Applaus. Nach etwa einer Stunde löst sich die Demo auf.
Sich für die Rechte von Frauen, besonders jungen Frauen oder solchen mit Migrationshintergrund, einzusetzen, gehört zu den Schwerpunktthemen von Aminata Touré. Sie engagiert sich gegen Rassismus, interessiert sich für Bildungspolitik, die in Deutschland in der Verantwortung der Bundesländer liegt, und arbeitet im Bereich Flucht und Migration. Sie findet, wenn Menschen bei dem Versuch sterben, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, gehe das "uns alle" an, nicht nur Menschen mit Bezug zum afrikanischen Kontinent.
Steile Karriere
1992 wurde Touré in Neumünster in Schleswig-Holstein geboren. Sie wuchs in einer Unterkunft für Geflüchtete auf. Ihre Eltern hatten nach einem Putsch 1991 Mali verlassen. Erst mit 13 Jahren wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Aminata Touré studierte Politikwissenschaft und Französische Philologie, schloss mit einem Bachelor ab, engagierte sich bei den Grünen. 2017 kam sie in den Kieler Landtag. Deutschlandweite Bekanntheit erlangte sie, als sie zwei Jahre später dessen Vizepräsidentin wurde - als jüngste und erste afrodeutsche Person in diesem Amt.
Die Deutsche Welle traf die heute 28-Jährige erstmals vor knapp zwei Jahren. Damals hatte Touré noch mehrere Stunden Zeit, führte durch Kiel. Nun ist sie ständig auf dem Sprung. Sie wirkt gereifter, professioneller. Die zahllosen Reden, Interviews und öffentlichen Auftritte haben ihre Spuren hinterlassen - ohne dass sie ihren lockeren Stil eingebüßt hat.
Aminata Touré weiß wovon sie spricht und wie sie ihre Botschaft am besten vermittelt. "Ich gehöre zu einer Generation von Leuten, die sagt: Wir wurden lange Zeit nicht akzeptiert als Teil dieser Gesellschaft. Wir haben aber auch unseren Senf dazuzugeben und es gibt Dinge in der Gesellschaft, die wir anprangern, wir haben aber auch Vorschläge, wie es besser gehen könnte."
Etwa in der Bildungspolitik beim Thema Kolonialismus. Über die Verbrechen, die in Afrika in deutschem Namen vor dem Ersten Weltkrieg begangen wurden, ist hierzulande wenig bekannt, vor allem bei Schülern. Das will Aminata Touré ändern. "Wir wollen, dass Kolonialismus noch einmal intensiver aufgearbeitet wird in der Schule, um sich mit Rassismen, die heutzutage stattfinden, auch besser auszukennen." Dabei geht es ihr unter anderem darum, inwiefern sich koloniale Bilder im 19. Jahrhundert verfestigt haben, die bis heute nachwirken.
In der jüngsten Vergangenheit habe es zahlreiche Ereignisse gegeben, die junge Menschen politisiert hätten, meint sie. Dazu gehören die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA, Angriffe von Neonazis in Deutschland oder antisemitische Ausfälle. Wenn so etwas passiere, wolle sie, dass "Menschen wie ich mit am Tisch sitzen und mitentscheiden", was zu tun sei.
Hohe Erwartungen
Ihr politisches Engagement hat zur Folge, dass sie auch angefeindet wird, besonders anonym in den Sozialen Netzwerken. Doch hat sie auch Zehntausende Anhänger, eine Art Fangemeinde, die stetig wächst. Junge Menschen, die sich politisch engagieren möchten, fragen sie um Rat. Viele, die sie bewundern, verorten sie weniger in Schleswig-Holstein, sondern auf bundespolitscher Ebene. Nach Annalena Baerbock, Spitzenkandidatin der Grünen für die Bundestagswahl im September, werde sie die nächste Kanzlerin, kommentiert eine Nutzerin auf Twitter einen Beitrag von Touré
Aminata Touré spricht von "Erwartungsmanagement", das sie betreiben müsste, um Menschen nicht zu enttäuschen, die viel in sie hineinprojizieren. Sie hört sich alles an, setzt sich dafür ein, aber kann nicht versprechen, dass sich alles ändert.
Dass sie in den letzten beiden Jahren in ganz Deutschland immer bekannter geworden ist, erfüllt sie mit Stolz. Die Frage, ob sie sich nach der Bundestagswahl im September dieses Jahres vorstellen könne, ein Amt in einer von den Grünen geführten Regierung in Berlin zu übernehmen, lässt Touré offen. Sie sehe sich eher in Schleswig-Holstein, habe großes Interesse weiter Landespolitik zu betreiben, sagt sie. Sie wolle aber auch in Zukunft das machen, worauf sie Lust habe und wobei sie am meisten politisch umsetzen könne.