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Jurij Andruchowytsch

Birgit Görtz18. Oktober 2013

Der Dichter gilt als eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen der Ukraine. Mit der DW spricht er über den langen Weg seiner Heimat Richtung Europa - und natürlich über Poesie, die er auch ins Deutsche übersetzt.

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Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/ZB

DW: Zahlreiche Ihrer Werke sind ins Deutsche übertragen, Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch, und performen sogar Ihre Texte auf Deutsch. Wie ist ihr Verhältnis zur deutschen Sprache, schließlich ist es ja nicht Ihre Muttersprache?

Jurij Andruchowytsch: Das ist die Sprache, die ich als Fremdsprache in der Schule gelernt habe. Ich besuchte eine spezialisierte Schule mit erweitertem Deutschunterricht. Ich war sieben Jahre alt, als ich angefangen habe, Deutsch zu lernen. Ich lernte zehn Jahre in der Schule Deutsch. Dann gab es eine Periode, wo ich Deutsch überhaupt nicht verwenden konnte. Doch nach der Wende 1991 bekam ich meine erste Möglichkeit nach Deutschland zu fahren, mein erstes Stipendium hatte ich in Bayern, von der Stadt München. Ich habe drei Monate in Deutschland gewohnt. Das war eine ziemlich dramatische Situation. Ich war sicher, dass ich Deutsch sprechen kann, gut verstehen würde. Doch die Realität war anders. Das war psychologisch sehr schwierig. Ich musste mich umstellen, um diese Sprache, die ich nur in der Schule gelernt hatte, nun auch praktisch zu verwenden.

Performance von Jurij Andruchowytsch auf dem Festival Meridian Czernowitz im September 2013 (Foto: DW/B. Görtz)
Performance von Jurij Andruchowytsch auf dem Festival Meridian Czernowitz im September 2013Bild: DW/B.Görtz

Seit damals habe ich verschiedenste Aufenthalte in Deutschland und in deutschsprachigen Ländern unternommen. Ich habe viele Kontakte, ich übersetze deutsche Poesie. Wenn meine eigenen Texte ins Deutsche übersetzt werden, dann nehme ich an der Arbeit der Übersetzer teil, authorisiere die deutschen Texte.

Sie sind ein Wandler zwischen den literarischen Welten. Welches Land liebt seine Dichter mehr: Die Ukrainer oder die Deutschen?

Ich denke, dass Dichter für die Ukrainer wichtiger sind. In den Augen der Leute sind die Dichter hier immer noch diejenigen, von denen man etwas Essentielles, wichtige Botschaften erwartet. In Deutschland ist die Poesie heute sehr vielfältig, sehr raffiniert, doch gleichzeitig hat sie nicht so ein breites und großes Publikum wie hier in der Ukraine.

Gibt es einen Unterschied im Umgang mit der Sprache zwischen der Lyrik Osteuropas und der deutschsprachigen Lyrik?

Ich habe das nicht sehr gerne, diese Unterschiede zu suchen, aber vielleicht gibt es sie tatsächlich. Den osteuropäischen Literaturen ist eine Besonderheit gemeinsam: Sie werden in kleineren Sprachen geschrieben. Polnisch, Litauisch, Ungarisch oder Slowakisch sind alles kleinere Sprachen. Jeder Dichter, der in dieser Sprache seien Texte schreibt, steht vor der Tatsache, dass seine Sprachwelt hermetisch ist. Er muss besondere Bemühungen unternehmen, um die Texte auch für große Kulturen verständlich zu machen. Wenn jemand Englisch oder Spanisch schreibt, Sprachen, die weltweit verbreitet sind, dann weiß er, es gibt es eine große Menge von Übersetzern.

Bei Andruchowytschs Auftritt ist der Saal voll bis auf den letzten Platz (Bilder: DW/B. Görtz)
Bei Andruchowytschs Auftritt ist der Saal voll bis auf den letzten PlatzBild: DW/B.Görtz

Die deutsche Sprache ist eine mittlere Sprache. Die deutschsprachigen Länder liegen zwischen den großen westlichen Sprachkulturen und den osteuropäischen. Womöglich ist man im deutschsprachigen Raum gerade deshalb so offen für die osteuropäischen Autoren. Wenn die Autoren Osteuropas übersetzt sind, dann meist ins Deutsche. In diesem Sinne ist die deutschsprachige Welt so eine Art Vermittler. Ich finde, dass dieser Kontakt zwischen Osteuropa und Deutschland im literarischen Bereich für beide Seiten sehr produktiv ist.

Wenn Sie nicht so gerne die Unterschiede suchen, frage ich nach den Gemeinsamkeiten zwischen der deutschsprachigen und osteuropäischen Lyrik. Worin sehen Sie diese?

Ich denke, dass Poesie trotz aller Besonderheiten etwas Gemeinsames hat. Die Leute denken und fühlen, lieben und leben überall mehr oder minder gleich. Der Beweis dafür ist, dass Übersetzungen ja möglich sind. Sollte es keine Gemeinsamkeiten geben, dann wäre auch die Übersetzung unmöglich. Dass Übersetzungen funktionieren, zeigt, dass wir trotz allem in einer Welt leben.

Zahlreiche von Andruchowytschs Büchern liegen auf Deutsch vor. Auch der Roman "Moscoviada"
Zahlreiche von Andruchowytschs Büchern liegen auf Deutsch vor, auch der Roman "Moscoviada"

Sie werden als kulturelle und intellektuelle Stimme Ihres Landes immer wieder zum Verhältnis Ihrer Heimat zu Russland einerseits und Westeuropa andererseits gefragt. Was ist Ihrer Meinung nach das Selbstverständnis der Ukraine? Wo steht die Ukraine?

Die Ukraine muss sich selbst definieren. Umfragen zeigen, dass etwas mehr als die Hälfte ein Teil Europas sein wollen, das heißt sie wollen EU-Mitglied sein. Weniger als 40 Prozent sind für eine Union mit Russland. Rund 15 Prozent haben keine Ahnung, was sie wollen. Das ist ein dramatisches Zeichen für das Land. Aber die Situation ist dynamisch. Es ändert sich. Ich denke, dass die Entwicklung in Richtung Europa geht.

Gilt das auch für den Osten der Ukraine, wo die Bevölkerung sich traditionell stärker an Russland orientiert und auch teilweise russischsprachig ist?

Diese Prozesse sind nicht unmittelbar mit der Sprache verbunden. Es gibt sehr viele Ukrainer, die ausschließlich Russisch sprechen und die gleichzeitig gegen neue Vereinigungen mit Russland sind. Umgekehrt sprechen sich auch nicht alle, die Ukrainisch sprechen, automatisch für die Europäische Union aus. Auch unter diesen gibt es solche, die für eine neue Sowjetunion sind.

Meinen Sie, dass wir auch noch in 15 Jahren darüber sprechen, wie sich die Ukraine definiert?

15 Jahre sind für mich eine zu lange Distanz. Ich hoffe, dass diese Entscheidung des ukrainischen Dilemmas früher fällt. Andererseits können wir in diesem Land nie sicher sein. Wir dürfen uns nicht in Prophezeiungen versuchen. 2004/2005, nach der so genannten Orangenen Revolution, war ich viel optimistischer. Ich dachte, dass diese Wende, diese neue gesellschaftliche Situation bei uns schon definitiv eine andere Qualität bedeutet, dass wir uns direkt Richtung Europa bewegen. Darin habe ich mich getäuscht. Ich würde jetzt glücklich sein, wenn ich mich mit meiner pessimistischen Prognose täusche, wenn ich sage: Wir werden noch viel, viel Zeit brauchen. Lassen wir uns überraschen.