Die Moderatorin wird zur Getriebenen
1. Juli 2018Angela Merkel wusste, worauf sie sich einlässt: "Wir werden es mit Anfechtungen von allen Seiten zu tun haben", sagte die deutsche Regierungschefin im November 2016, als sie sich zu einer vierten Kanzlerin-Kandidatur bereit erklärte. Zu diesem Zeitpunkt war die Christdemokratin (CDU) schon elf Jahre im Amt. Angesichts dieser langen Dauer bezeichnete sie ihre Entscheidung als "alles andere als trivial - weder für das Land noch für die Partei noch für mich persönlich".
Wie treffend ihre damalige Einschätzung war, bekam sie zehn Monate später bei der Bundestagswahl im September 2017 zu spüren. Zwar wurde die CDU wieder stärkste politische Kraft, musste allerdings herbe Verluste einstecken. Der Versuch misslang, eine Koalition mit der bayrischen Schwesterpartei CSU, Grünen und Freien Demokraten (FDP) zu schmieden.
Auslöser war die nach wochenlangen Sondierungsgesprächen überraschend ausgestiegene FDP, aber bei der anschließenden Ursachenforschung wurde auch ein anderer Grund kolportiert: Merkel soll es an der nötigen Entschlossenheit für ein schwarz-gelb-grünes Jamaika-Bündnis gefehlt haben.
Schwesterpartei demütigt Kanzlerin: "Herrschaft des Unrechts"
Was auch immer an dieser Erzählung stimmt, sie passt zum Bild einer Kanzlerin, deren Spielräume von Jahr zu Jahr kleiner geworden sind. Trotzdem blieb sie ihrem Stil treu und fand - wenn auch quälend langsam - eine andere Lösung: die Fortsetzung der Koalition mit den Sozialdemokraten (SPD). Auch die hatten bei der Bundestagswahl ein historisch schlechtes Ergebnis erzielt. Aber weil Merkel auf die SPD angewiesen war, musste sie den Sozialdemokraten viele personelle und inhaltliche Zugeständnisse machen. Besonders schwer dürfte es ihr gefallen sein, das einflussreiche Finanzministerium an den kleineren Koalitionspartner abgeben zu müssen.
Noch schwerer wog und wiegt indes der Verlust des Innenministeriums, das an die CSU ging. Und mit Horst Seehofer übernahm dieses Ressort jener Mann, der Merkel das Leben ohnehin schon seit Jahren schwer macht. Die von ihr im September 2015 veranlasste Grenzöffnung für Flüchtlinge bezeichnete Seehofer, damals noch bayerischer Ministerpräsident, als "Herrschaft des Unrechts". Er drohte sogar damit, Klage beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Ein beispielloser Affront gegenüber der Kanzlerin, mit dem der CSU-Chef sein Ziel erreichte: die Verschärfung des Asylrechts.
Auf Anti-Merkel-Kurs: Polen, Ungarn, Österreich, Italien…
Spätestens seit diesem unbarmherzig geführten Streit ist offensichtlich, dass Merkel auch eine Getriebene ist. Sie erlebt auf brutale Weise, was Leute wie Seehofer von ihrem Politikstil des Moderierens von Problemen halten: im Zweifelsfall nichts. Diese Erfahrung muss sie auch immer häufiger außerhalb Deutschlands machen - aus dem gleichen Grund: wegen der ungelösten Flüchtlingsfrage. Die osteuropäischen Länder, allen voran Polen und Ungarn, verweigern Merkel dabei seit Beginn der massenhaften Migration die Gefolgschaft. Inzwischen treiben auch Österreich und Italien Merkel vor sich her.
Ohne zaghafte Unterstützung Frankreichs, Spaniens oder auch Griechenlands stünde die bislang immer noch mächtigste Frau der Welt schon längst auf verlorenem Posten. Ein Schicksal, das ihr auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nur durch den im Wortsinne teuer erkauften Pakt mit der Türkei erspart blieb. Ohne die Hilfe des in Ankara autokratisch herrschenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wäre die Balkanroute weiterhin sperrangelweit offen, über die Menschen aus Syrien und anderen Staaten gen EU flohen. Auch dieser Deal ist Beleg dafür, wie sehr Merkel inzwischen von anderen einflussreichen und mächtigen Akteuren abhängig ist.
2005 war sie die unbekannte Neue, seit 2009 die Taktgeberin Europas
Das war während ihrer ersten, 2005 begonnenen Amtszeit noch anders. Deutschland entwickelte sich wirtschaftlich prächtig, nachdem es lange Zeit als "kranker Mann" Europas gegolten hatte. Auch die weltweite Finanzkrise, in deren Zeichen Merkels zweite Kanzlerinschaft ab 2009 stand, meisterte sie mit Bravour. Zumindest aus nationaler Perspektive, denn ökonomisch ging es für Deutschland weiter bergauf. Die Bundeskanzlerin nannte ihre Politik "alternativlos" und gab in Europa den Takt vor - erwarb sich aber vor allem in den südlichen Krisenländern des Kontinents den zweifelhaften Ruf der Zuchtmeisterin.
Dieses Bild blieb auch noch eine Weile prägend, nachdem sie 2013 zum dritten Mal Bundeskanzlerin geworden war. Damals konnte sie es sich sogar leisten, die USA unter Präsident Obama im Zuge der transatlantischen Spionage-Affäre die Stirn zu bieten. "Ausspionieren unter Freunden, das geht gar nicht!", sagte sie dazu. Doch so kraftvoll und selbstbewusst klingen Merkel-Sätze schon lange nicht mehr. Fünf Jahre später muss sie es sich gefallen lassen, von Obamas Nachfolger Donald Trump für ihre Flüchtlingspolitik gescholten zu werden: "Die Menschen in Deutschland wenden sich gegen ihre Führung, weil das Migrationsthema die ohnehin schon schwächelnde Koalition durchschüttelt", behauptete Trump auf Twitter.
Auch das noch: Schützenhilfe von Trump für Seehofer
Schützenhilfe des US-Präsidenten für Seehofer - Merkel bleibt 2018 nichts erspart. Als sie sich im November 2016 nach langem Zögern zu einer vierten Kandidatur für die Bundestagswahl bereit erklärte, begründete sie ihre Entscheidung mit innen- und außenpolitischen Überlegungen. Die Bürger hätten wenig Verständnis dafür, wenn sie ihre Erfahrung und ihre Fähigkeiten "in unsicheren Zeiten" nicht wieder in die Waagschale werfen würde, postulierte Merkel und verwies auf den starken gesellschaftlichen Wandel und die zunehmende Polarisierung in der Welt.
"Kein Mensch alleine, auch nicht mit größter Erfahrung, kann die Dinge in Deutschland, Europa und in der Welt zum Guten wenden", sagte die Kanzlerin damals. Und sie fügte hinzu: "Erfolge erzielen, das geht wirklich nur gemeinsam." Diese Erkenntnis gilt für Merkel im 13. Jahr als Bundeskanzlerin mehr denn je. Noch nie spürte sie mehr Gegenwind von außerhalb, aber auch in den eigenen Reihen.
Merkels Zukunft steht in den Sternen
Dass ihr hartnäckigster Gegner von der Schwesterpartei CSU kommt, mag sie bei der komplizierten Regierungsbildung im Frühjahr 2018 geahnt haben. Seit Seehofers Ultimatum im Streit um die Abweisung von Flüchtlingen an deutschen Grenzen ist es eine Gewissheit. Spätestens seitdem weiß Deutschland, weiß Europa: Die mächtigste Frau der Welt ist politisch erpressbar. Wo das hinführt, scheint im Moment völlig offen zu sein.