Angela Merkel pokert hoch im Asylstreit
20. Juni 2018Ein neues Kapitel im Asylstreit ist erreicht. Kurzer Rückblick: Die deutschen Regierungsparteien CDU und ihre bayerische Schwesterpartei CSU rasten letzte Woche wie zwei Lokomotiven aufeinander zu - angeführt von ihren jeweiligen Parteichefs Angela Merkel und Horst Seehofer. Kurz vor dem Crash einigten sich beide auf eine Zwei-Wochen-Friedensfrist. Und nun? Jetzt wird verhandelt - und zwar nicht nur in Berlin und in der bayerischen Landeshauptstadt München, sondern auch in Paris, Wien, Rom und Brüssel. Am Sonntag treffen sich die Regierungschefs aus Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien - und noch einige mehr - auf Initiative von Merkel zu einem Sondergipfel in Brüssel.
Das zeigt: Der deutsche Asylstreit ist keine innerdeutsche, sondern inzwischen eine europäische Angelegenheit. Das macht die Sache nicht einfacher, hat aber auch etwas Gutes: Denn so viel Bewegung in der Migrationspolitik war auf EU-Ebene schon lange nicht mehr.
Das Eurozonen-Budget ist Teil der Verhandlungen
Weil es aber so viele Akteure und verschiedene Interessen gibt, müssen einzelne Ereignisse immer auch im Lichte dieses Verhandlungswirrwarrs bewertet werden. So wie die "Meseberger Erklärung" von Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom Dienstag. Merkel erklärt sich darin zu einem Eurozonen-Budget für Investitionen bereit. 2021 soll es losgehen. Damit ging die Kanzlerin einen großen Schritt auf Macron zu, für den dieser Punkt ein zentrales Versprechen ist. Macron hatte ursprünglich einen dreistelligen Milliardenetat dafür gefordert. Merkel nannte keinen Betrag und ließ auch offen, wie genau dieser Etat in den EU-Haushalt eingebunden wäre. Das könnte Teil weiterer Verhandlungen sein. Macron versprach Merkel ein bilaterales Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen. Genau ein solches Abkommen muss Merkel vorweisen, wenn sie den Asylstreit in Deutschland mit der CSU befrieden möchte.
Deshalb könnte ein solches Abkommen seinen Preis haben. Im Gespräch ist ein fester Anteil des nationalen Bruttoinlandsprodukts bis zu 0,5 Prozent. Das wären rund 15 Milliarden Euro für Deutschland. Noch aber ist das Teil der Verhandlungen. Doch einfach dürfte es für Merkel nicht sein, das durchzusetzen - nicht nur gegenüber anderen EU-Partnern, sondern auch innenpolitisch.
Störfeuer aus München
Sofort am Morgen nach dem Treffen mit Macron kam heftiger Gegenwind vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. "Wir können jetzt nicht zusätzliche Schattenhaushalte auf den Weg bringen - oder gar am Ende mit deutschen Zahlungen versuchen, irgendwelche Lösungen zu erreichen", sagte Söder vor einem Treffen mit dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz. Der ist in München, um Asylfragen zu besprechen. Es wird gerade verhandelt, was das Zeug hält.
Manche Beobachter sagen, Söder wolle Merkel weg haben. Weil es in Bayern inzwischen zu viele gebe, die nicht mehr zur Kanzlerin stünden. Im Herbst droht die Landtagswahl, bei der die CSU ihre absolute Mehrheit verlieren könnte. Über das Verhältnis Seehofer und Söder ließe sich viel erzählen. Dass beide an einem Strang ziehen, ist jedenfalls nicht ausgemacht. So könnte es noch ordentliches Störfeuer für Merkel aus München geben, auch wenn Seehofer einlenken sollte.
Erstmal keine weitere Eskalation in Berlin
Während Söder den Hardliner gibt, zeigte sich Seehofer in Berlin fast schon kooperationswillig. Zwar sei er vom Inhalt der "Meseberger Erklärung" nicht informiert gewesen, sagte er bei einer Pressekonferenz. Das sei nicht okay. Aber die Absprache werde auf einem Spitzentreffen am kommenden Dienstag im Kanzleramt nachgeholt - Punkt für Punkt. Das sei doch ein ganz normaler politischer Vorgang.
Dann sagte Innenminister Seehofer einen Satz, der im gegenwärtigen Streit um nationale und europäische Lösungen aufhorchen ließ: Niemand werde sich mehr über europäische Lösungen im Asylstreit freuen als der Bundesinnenminister. Natürlich aber sollten sie "wirkungsgleich" sein mit dem von ihm angedrohten nationalen Alleingang, keine Asylbewerber mehr über die deutsche Grenze zu lassen, die schon in einem anderen Land registriert wurden.
Auch beim nächsten Termin Seehofers, einer zentralen Gedenkstunde zu Flucht und Vertreibung am Weltflüchtlingstag, gab es sichtbare Entspannungssignale. Seehofer und Merkel saßen im Publikum direkt nebeneinander, tuschelten und lachten ab und an miteinander. Eisige Stimmung zwischen zwei verfeindeten Konfliktparteien sieht anders aus.
Was hat Deutschland zu bieten?
Sollte Merkel weitere bilaterale Abkommen bis zum Ablauf der Friedensfrist Ende des Monats nach dem EU-Gipfel auf den Weg bringen wollen, wird sie dafür politische oder auch finanzielle Zugeständnisse auf den Verhandlungstisch legen müssen.
Das kündigte sie schon am Montag nach dem Treffen mit Italiens Premier Guiseppe Conte an. Sie werde in Deutschland dafür werben, dass Italien "Solidarität" auch aus Deutschland verdient habe. Schließlich sei Italien mit am stärksten von Migrationsströmen betroffen, sagte die Bundeskanzlerin.
Welche weiteren Länder Merkel für bilaterale Abkommen im Visier hat, könnte sich bald zeigen. Auf jeden Fall wird Österreich ein wichtiger Partner, denn das Land übernimmt am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Kanzler Kurz kündigte neue Initiativen in der Flüchtlingspolitik an.
Merkel besucht diese Woche Jordanien und den Libanon. Sie will sich von der Flüchtlingssituation dort einen Eindruck verschaffen. Bei der Gedenkstunde sprach Merkel davon, wie wichtig auch globale Abkommen seien. Erstmal aber geht es europäisch weiter.
Einigung wird mehr Abschottung bringen
Wie auch immer der Streit in Berlin und der EU ausgehen mag: Aus der Perspektive der Flüchtlinge deutet sich eine migrationsfeindlichere Politik ab. Nicht nur der "Masterplan" von Seehofer in Deutschland listet viele Verschärfungen auf. Auch Europa scheint einen großen Schritt hin zu einer weiteren Abschottung zu wollen. Ziel müsse sein, dass Flüchtlinge aus Afrika den europäischen Kontinent gar nicht mehr erreichen können, sagte CSU-Politiker Manfred Weber in einem Interview im österreichischen Fernsehen.
Weber führt die größte Fraktion im EU-Parlament an; manche sehen in ihm den kommenden EU-Kommissionspräsidenten. Weber sagte, er sehe zum Beispiel die Möglichkeit, in Nordafrika Asylzentren einzurichten. Die EU-Außengrenze müsse sicherer werden. Dem EU-Gipfel Ende des Monats blicke er optimistisch entgegen, auch hinsichtlich der Frage, wie legale Flüchtlinge über die EU-Staaten verteilt würden.
Sollte Merkel am Ende einen Durchbruch auf europäischer Ebene erreichen, hätte sie ihr politisches Vermächtnis als "Wir schaffen das"-Kanzlerin gerettet. Sie ist bekannt dafür, Win-Win-Situationen verhandeln zu wollen. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wie hoch der Preis dafür sein könnte, wird sich erst nach und nach zeigen.