Angela Merkels balkanisches Erbe
2. Juli 2021"Vertragt Euch!" - das waren die letzten Worte der deutschen Bundeskanzlerin bei der Abschluss-Pressekonferenz des Gipfeltreffens in Sofia im November 2020. Gerichtet waren sie an die damaligen Gastgeber des 6. Gipfels des "Berliner Prozesses", die Premierminister Bulgariens und Nordmazedoniens, Bojko Borissow und Zoran Zaev.
Trotz guter Stimmung auf dem Gipfel hatten die beiden Politiker es nicht geschafft, eine Einigung in ihrem Streit um die Interpretation der gemeinsamen Geschichte zu erreichen. Die dadurch entstandene bulgarische Blockade des Beginns der EU-Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien besteht bis heute.
Als 2014 die Bundeskanzlerin zum ersten Mal die politischen Führer der sechs Westbalkanländer - Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, das heutige Nordmazedonien, Montenegro und Serbien - nach Berlin eingeladen hatte, waren die Widerstände gegen eine EU-Erweiterung groß.
Albanien hatte gerade den Kandidatenstatus erhalten, Serbien, Nordmazedonien und Montenegro hatten ihn schon länger. Kosovo und Bosnien-Herzegowina verhandelten über Assoziierungsabkommen, die ein Jahr später unterzeichnet wurden. Der Berliner Prozess war geboren, zunächst sollte er für vier Jahre lang laufen. Das Ziel: Die Länder des Westbalkans bei der EU-Integration zu unterstützen.
Kaum Fortschritte
Seit der ersten Begegnung fand jedes Jahr eine Konferenz in gleichem Rahmen statt: sechs Balkanländer und Vertreter der EU-Staaten, die sich entweder politisch oder geografisch mit der Großregion in Südosteuropa verbunden fühlen.
Doch auch im inzwischen siebten Jahr sind kaum Fortschritte zu verzeichnen. Deshalb bleibt dem Berliner Prozess nichts anderes übrig, als sich selbst zu reproduzieren. In welchem Format das Erbe der Bundeskanzlerin nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt in diesem Herbst fortgesetzt wird, darüber wird Angel Merkel am Montag (5.07.2021) mit den westbalkanischen Partnern sprechen. Eines dürfte dabei bereits im Vorfeld klar sein: "Die EU-Perspektive des Westbalkans soll bekräftigt werden, und der Berliner Prozess als Unterstützung dafür soll fortbestehen", so Katja Leikert, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, im DW-Gespräch.
Diplomatische Offensive
Anfang des Jahres startete Deutschland eine von den Medien in Südosteuropa als "diplomatische Offensive" bezeichnete Agenda, die das Ziel hat, die Westbalkan-Region ganz oben auf die Liste der EU-Prioritäten zu setzen. So kamen, trotz Pandemie, seit Beginn des Jahres die Gäste vom Balkan wie auf dem Fließband nach Berlin, allen voran der junge montenegrinische Außenminister Djordje Radulovic, der sich im Januar, mitten im Lockdown, persönlich mit Heiko Maas in Berlin traf.
"Der Gipfel am Montag ist nur der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Vorbereitungstreffen. Im Juni fanden Konferenzen der Außen-, Gesundheits-, Innen- und Wirtschaftsminister statt. Darüber hinaus ist ein großes Zivilgesellschafts- und ein Jugendforum Teil des Prozesses", so Susanne Schütz, Beauftragte der Bundesregierung u.a. auch für den Westbalkan, in einem Hintergrundgespräch mit der DW. Dort ging es konkret um Maßnahmen gegen Corona, die Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität sowie um die Digitalisierung und die "grüne Agenda".
Noch am vergangenen Montag (28.06.2021) hatte Merkel mit den Staatsführungen Albaniens, Serbiens, Bosnien und Herzegowinas sowie Nordmazedoniens gesprochen.
Schlechtes Image in der Region
In den Westbalkan-Ländern hat der Berliner Prozess mittlerweile ein schlechtes Image: "In den Augen der Öffentlichkeit ist der Berliner Prozess nichts anderes als eine weitere Gelegenheit für Politiker aus der Region, sich mit EU-Führern zu treffen und mit fröhlichen Fotos und leicht verdaulichen Botschaften Aussichten auf eine EU-Mitgliedschaft und eine bessere Zukunft zu generieren", meint etwa Adi Cermagic von der European Stability Initiative (ESI), einem Think-Tank für Südosteuropa mit Sitz in Berlin. Die Menschen in der Region seien müde von den "Fotos, Trinksprüchen und Mitgliedschaftsperspektiven für 10, 15 oder mehr Jahre", fügt er hinzu.
Aber immerhin, so Cermagic, brachte der Berliner Prozess einige Fortschritte für den Alltag. So müssen ab Anfang Juli 2021 in der Region z.B. keine Roaminggebühren mehr gezahlt werden.
Gemeinsamer Markt
Die deutsche Westbalkan-Beauftragte Schütz nennt weitere Punkte. "Die Transport- und Energieinfrastruktur ist in den letzten sieben Jahren stark ausgebaut und mit den EU-Korridoren verbunden worden. Und auch das regionale Jugendwerk RYCO, das seit Jahren Jugendliche in der Region zusammenbringt, ist ein zukunftsweisendes Ergebnis des Prozesses. Diese Ergebnisse zeigen, dass eine erfolgreiche Kooperation im Berliner Prozess gelingt", so Schütz.
Doch auch die Diplomatin gesteht ein, dass immer noch viel zu tun ist. Allen voran muss der 2020 in Sofia beschlossene "Action Plan" für die Errichtung eines gemeinsamen Marktes endlich implementiert werden. Ziel ist, so Schütz, die vier Grundfreiheiten - freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital - analog zur EU bis 2024 auf dem westlichen Balkan einzuführen.
Politischer Wille ist wichtig
Bundesaußenminister Heiko Maas rief noch Anfang Juni 2021 nach einer Westbalkan-Außenministerkonferenz die Länder der Region dazu auf, den Berliner Prozess zu einem Erfolg zu machen. Zumindest ein Abkommen zur Reisefreiheit in der Region mit Personalausweisen und die gegenseitige Anerkennung von Berufs- und Hochschulabschlüssen sollten nun erreicht werden, fügt Schütz hinzu.
Derzeit zeigen sich nur drei Länder bereit, einen gemeinsamen Markt zu errichten: Albanien, Nordmazedonien und Serbien. Alle anderen Westbalkan-Staaten zögern bisher. Dafür stehen die politischen Streitigkeiten, allen voran zwischen Kosovo und Serbien, im Vordergrund. Ob am Ende am 5.07.2021 in Berlin mehr herauskommt, als Merkels Wunsch "Vertragt Euch!", ist völlig offen.