Angeschlagen zum letzten Gefecht
20. November 2016Merkel als Mensch und Politikerin vorzustellen, war jahrelang nicht besonders schwierig. Eine Erfolgsgeschichte eben. Einzig über ihre spröde Art wunderten wir uns. Über ihre immer etwas holzig anmutenden Auftritte, über die bescheidene Rhetorik, die etwas zu hohe Stimme. Lange blieb die Frage unbeantwortet, warum eine wie sie so erfolgreich sein, eine solche Autorität ausstrahlen konnte.
Inzwischen wissen wir mehr: demoskopisch gesichert ist ihre Vertrauenswürdigkeit. Niemand kam bei ihr auf die Idee, dass sie andere Interessen verfolgen könnte, als Kanzlerin zu sein. Auch ihr kühler Politikstil hatte etwas Beruhigendes, und mit ihrem ganz und gar unglamourösen Privatleben - bescheiden wohnen, selbst kochen und in den Ferien wandern gehen - bediente sie das Selbstbild vieler Deutschen, normal zu sein. 2013, im Wahlkampf gegen Herausforderer Peer Steinbrück von der SPD, antwortete sie im TV-Duell auf die Aufforderung des Moderators, eine letzte Botschaft an die Wähler zu richten: "Sie kennen mich." Das wirkte positiv, klang nach Berechenbarkeit. Heute sind sich viele nicht mehr sicher, was sie von Merkel erwarten können.
Allein unter Feinden
Das ging gut, solange die Welt noch in Ordnung war. In der Vor-Flüchtlings-, in der Vor-Brexit-, in der Vor-Trump-Zeit. Nun muss sie sich in Sturmzeiten beweisen. Denn allein der Verweis auf niedrige Arbeitslosenzahlen, anständiges Wachstum und eine solide Kassenlage beruhigt nicht mehr alle. Deutschland, Europa, die Welt haben sich polarisiert. Unruhige Zeiten eben. Und die schwierigen Partner werden mehr.
Merkel hat Russlands Putin mehrmals die Stirn geboten, doch da war ihr Ansehen in Deutschland noch ungebrochen, und innerhalb der EU war sie eine Macht. Diese neue Schwäche, nicht mehr unangreifbar zu sein, nutzt auch Präsident Erdogan, der starke Mann vom Bosporus, aus. Selbst südosteuropäische Kleinstaaten, die vor etwas mehr als 20 Jahren Deutschland als Patenonkel hofierten, um in die EU-Familie aufgenommen zu werden, schießen nun politisch gegen die "Europa-Kanzlerin", weil sie den Nationalstaat wieder absolut setzen.
Vor dieser Kulisse soll Angela Merkel nun, wie die "New York Times" schrieb, in die Rolle der letzten "Verteidigerin des liberalen Westens" schlüpfen und jetzt erst recht führen.
Mit Fehlstart noch einmal führen wollen
Um das auch langfristig zu können, muss sie im September nächstes Jahr eine Mehrheit finden, um als Kanzlerin bestätigt zu werden. Was sehr wahrscheinlich ist. Doch auf dem Weg dorthin ist sie schon gestolpert. Den künftigen Bundespräsidenten wird die SPD stellen, nicht die Union. Ein Armutszeugnis für die größte Partei und den Seniorpartner in der Regierungskoalition. Sie hatte so lange gezögert, bis SPD-Chef Gabriel Fakten schuf. Das wird als schwere Niederlage für Merkel in die Chronik eingehen. Umso mehr, als sie mit der Nominierung eines Bundespräsidenten noch nie eine glückliche Hand hatte.
Die Wucht der politischen Veränderungen
Alles vor 2015, dem Jahr der großen Flüchtlingsankunft in Deutschland, war mehr als zehn Jahre lang der Stoff, aus dem die Merkel-Geschichte geschrieben wurde. Die Geschichte von Kindheit, Jugend und Studium in der DDR, der protestantische Familienhintergrund, wenig Politisches, dafür aber Anzeichen zielstrebigen Fleißes. Das alles - gepaart mit der Gunst der Stunde 1989 - ließ Merkel ungewöhnlich schnell als bieder wirkende junge Frau aufsteigen im Männerpolitik-System der Ära Helmut Kohl. Als der wegen der bis heute ungeklärten Partei-Spendenaffäre seinen Heiligenschein verliert, greift sie beherzt zu und wird im Jahr 2000 CDU-Vorsitzende. Es ist die Geburtsstunde des Merkel-Mythos. Mit aufsteigender Tendenz hält er bis Sommer 2015.
Seitdem ist die Wirklichkeit schneller als die Politik. In der Flüchtlingspolitik, so schien es, hatte Merkel ihr Thema gefunden. Mehr noch, sie hatte eine politische Vision. An die Stelle ihres alten Markenzeichens: langem Schweigen, späte Entscheidungen, setzte sie nun Durchsetzungswillen - zumindest verbal. Es war ein Akt der Humanität, ohne taktisches Kalkül, ein "Augenblick der politischen Schönheit", schrieb der "Spiegel" rückblickend. Längst hat sie in Teilen bereut, was sie in der zweiten Jahreshälfte 2015 nicht sehen, nicht aufhalten wollte: den unkontrollierten Zuzug hunderttausender Flüchtlinge. Schon damals war der Ruf zu vernehmen: Weiß sie, was sie tut?
Maximaler Kontrollverlust - erst an den Grenzen und dann…
Sie schaffte es nicht, den historischen Moment in rationale Politik zu lenken. Sie brachte die CSU gegen sich auf, überforderte die Länder und sah zu, wie die tatsächliche und eingebildete Angst in Teilen der Gesellschaft wuchs und der Alternative für Deutschland (AfD) zornige Bürger zuspielte. Auch in der eigenen Partei strapazierte sie die Leidensfähigkeit der Bürgerlich-Konservativen. In der bayrischen Schwesterpartei CSU wollen inzwischen nicht mehr alle für sie Wahlkampf machen und Plakate kleben.
Nicht anders ihr Reputationsverlust in der EU. Erst lässt sie für hunderttausende Flüchtlinge die deutschen Grenzen öffnen, um dann ohne Absprache mit den EU-Partnern die Lasten auf alle zu verteilen. Da spielten und spielen die europäischen Nachbarn nicht mit.
Die schwerste Amtszeit zum Schluss
Merkel dürfte - wenn man überhaupt noch etwas vorhersehen kann - zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt werden. Weil sie mit ihrer Union selbst bei deutlichen Stimmeneinbußen zusammen mit der vermutlich noch stärker vom Wähler gerupften SPD wieder eine große Koalition wird eingehen können. Aber wäre das der Wählerwille, die richtige Antwort auf die Protestwähler? Ihr Problem: Sie ist als Person und mit ihrer CDU/CSU die Nummer eins für die Bundestagswahl, wäre dann aber Kanzlerin einer ziemlich polarisierten Parteienlandschaft. Die schwersten Jahre kommen also noch für sie. Dabei stellt sich auch die Frage, ob Merkel das Ende ihrer Kanzlerzeit selbst wird bestimmen können.