Anne Frank Tag: "Erinnern und Engagieren"
12. Juni 2019Deutsche Welle: Warum gibt es ein Anne Frank Zentrum in Berlin und nicht in Frankfurt, der Geburtsstadt von Anne Frank?
Patrick Siegele: In Frankfurt am Main gibt es auch eine Bildungsstätte - und hier in der deutschen Hauptstadt das Zentrum als die deutsche Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam. Das war eine Entscheidung, die nach der Wende in den 1990er-Jahren getroffen wurde, als das Anne Frank Haus in Amsterdam entschieden hat, in Berlin eine Organisation zu unterstützen, die die Erinnerung an Anne Frank auch dort und in den neuen Bundesländern fördert.
War der Grundgedanke, das Thema Anne Frank und die Arbeit gegen Antisemitismus von vornherein in den damals sogenannten neuen Bundesländern zu verankern?
Genau das war der ursprüngliche Gedanke, und der kam aus Amsterdam. Hier gab es eine Bürgerinitiative von Menschen, die sich nach der Wende zusammengetan hatten, Menschen, die sich im weitesten Sinne mit der Erinnerungskultur beschäftigt haben. Sie brachten die Idee ein, das Zentrum als festen Ort zu etablieren.
Gab es denn in der DDR kein Gedenken an Anne Frank?
Es heißt ja oft, dass in der DDR wegen der Freundschaft zu den arabischen Ländern kein Platz für Erinnerungen an jüdische Opfer war. Das kann man so pauschal nicht sagen. Anne Frank ist ein gutes Beispiel. Die Premiere des Theaterstücks von 1956 "Das Tagebuch der Anne Frank" fand zeitgleich in Dresden und in West-Berlin statt. Es gab auch Anne-Frank-Schulen und Anne-Frank-Brigaden. Auch in Ostdeutschland existierte durchaus eine Erinnerungskultur an Anne Frank, allerdings wurden sie und ihre Familie eher als Widerstandskämpfer gezeichnet und ihre jüdische Identität dabei nicht so sehr in den Vordergrund gerückt. Aber man kannte sie, und ihr Tagebuch ist auch in der DDR ab 1957 mehrfach verlegt worden.
Was ist die Aufgabe des Anne Frank Zentrums?
Wir fassen sie zusammen mit den Worten Erinnern und Engagieren. Auf der einen Seite geht es darum, an Anne Frank als Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern und das vor allem mit Kindern und Jugendlichen zu tun. Mit Wanderausstellungen und der Ausstellung hier im Haus, mit dem Anne Frank Tag. Auf der anderen Seite aber steht immer die Frage: Was hat die Geschichte von Anne Frank, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust mit uns heute zu tun?
Was kann Anne Frank Kindern und Jugendlichen von heute noch erzählen?
Anne Frank und ihr Tagebuch sagt sehr viel auch über uns selbst. Beim biografischen Lernen ist es so, dass sich Verbindungen zwischen Anne Frank und den Jugendlichen selber herstellen. Da gibt es sehr viele Gemeinsamkeiten, die die Jugendlichen finden können, ähnliche Träume, ähnliche Alltagsprobleme, ähnliche Gedanken, die sie sich vielleicht um die Welt machen. Aber der Unterschied ist eben, dass Anne Frank als Jüdin ihr Recht auf ihr Leben abgesprochen wurde, dass sie diskriminiert wurde und untertauchen musste.
Das ist eine sehr einfache Ebene, auf der die Jugendlichen schon etwas lernen können. Anne Frank kennen sie über ihr Tagebuch, und in unserer Ausstellungen sehen sie Anne zuerst einmal als einen ganz normalen Teenager, wie sie es selber sind. Aber ihre Geschichte zeigt, wohin Hass, wohin Antisemitismus und Ausgrenzung führen können und dass Anne Frank eben nur auf einen Teil ihrer Identität reduziert wurde. Sie war ja nicht nur das Mädchen und der Teenager, die Freundin und die gute Schülerin - sie war auch Jüdin, und das war ausschlaggebend dafür, was mit ihr passiert ist, und dass sie letztendlich sterben musste.
Das ist etwas, was Jugendliche vielleicht auch heute noch nachvollziehen können, dass wir auch heute dazu tendieren, Menschen nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe darauf zu reduzieren, dass Vorurteile und Stereotype daraus entstehen und wir den Menschen an sich nicht mehr sehen. Anne Frank schreibt ja auch in ihrem Tagebuch: "Wann werden wir wieder Menschen und nicht nur Juden sein?"
Zu dem Punkt mit dem Engagieren kommt immer die Frage: Was kann ich tun? Wo liegen meine eigenen Handlungsspielräume? Damals haben die Leute viel zu lange gewartet. Viele konnten sich nicht vorstellen, wohin das führen konnte. Als es noch leichter war, sich zu wehren oder einen Unterschied zu machen, haben die Leute zu wenig getan. Und allmählich wurden die Handlungsspielräume sowohl für die Verfolgten, aber auch für die Mehrheit durch die Diktatur immer mehr eingeschränkt. Und irgendwann war es zu spät.
Kommen viele Jugendliche und Schulklassen hierher?
Allein hier in unserer Ausstellung haben wir jedes Jahr etwa 10.000 Jugendliche oder Menschen, die wir in pädagogischen Programmen vor Ort betreuen. Insgesamt zählen wir etwa 35.000 Besucher und Besucherinnen. Dazu kommen aber noch die Jugendlichen, die wir über unsere Wanderausstellungen erreichen. Das sind auch nochmal jährlich zwischen 15.000 und 20.000.
Von den Besucherinnen und Besuchern sind zirka zwei Drittel nicht deutschsprachig. Wir sprechen mit unserer Ausstellung in Berlin ganz gezielt Familien an. Es gibt wenige Angebote für Kinder und Jugendliche zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust in Berlin. Zwar gibt es viele Gedenkstätten und Ausstellungen, aber die richten sich eher an ein erwachsenes Publikum. Das macht unsere Ausstellungen attraktiv für Familien. Und Anne Frank ist international sehr bekannt. Ihr Tagebuch ist in 80 Sprachen übersetzt worden, und deswegen haben sehr viele Menschen von Anne Frank gehört. Nicht alle können nach Amsterdam, um das Anne Frank Haus dort zu besuchen.
Unsere Ausstellung informiert über Anne Frank, und sie schlägt die Brücke von der Geschichte in die Gegenwart. Es geht um Fragen von Antisemitismus heute, um Gedenken. Was heißt das eigentlich? Wir richten uns mit der Ausstellung vor allem an die Kinder und Jugendlichen, sich selber zu diesen Fragen Gedanken zu machen, mitzumachen und selbst etwas hier im Museum zu lassen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine interaktive Ausstellung, die zum Mitmachen anregt.
Sie sagen, es werden Bezüge zur Gegenwart hergestellt. Was kommt denn von den Jugendlichen zurück?
Natürlich stellen die Jugendlichen von sich aus auch Bezüge von der Geschichte in die Gegenwart her. Wir sorgen auch immer dafür, dass sie bei den Wanderausstellungen nicht alleingelassen werden. Manchmal kooperieren wir mit den Museumspädagogen vor Ort oder mit Geschichtslehrern, damit sich die Jugendlichen mit solchen Fragen, oder falls sie Hilfe benötigen, an jemanden wenden können. Gerade zum Thema Verfolgung und Flucht kommt das oft vor.
Wir haben dazu auch Material herausgegeben, "Flucht im Lebenslauf", in dem wir uns mit der Migrations- und Fluchtgeschichte der Familie Frank auseinandersetzen. Denn viel zu wenige Leute wissen, dass Otto Frank auch ganz aktiv daran gearbeitet hat, Amsterdam wieder zu verlassen, nachdem die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande überfallen hatte. Obwohl er und seine Frau Verwandtschaft in den USA hatten und er sogar eine Zeitlang in New York gearbeitet hatte, ist es ihm nicht gelungen, ein Visum für seine Familie zu bekommen. Unter anderem, weil sie als Staatenlose galten - die Nationalsozialisten haben ja den im Ausland lebenden Jüdinnen und Juden 1941 die Staatsbürgerschaft entzogen. Später gab es auch kein US-amerikanisches Konsulat mehr in den Niederlanden.
All das hat dazu geführt, dass der Familie nichts anderes übrig blieb als unterzutauchen. Da gibt es vielleicht Gemeinsamkeiten zu Fluchtgeschichten von heute. Es gibt aber auch immer wieder Unterschiede, und es ist uns auch ganz wichtig, das Besondere der Situation der Familie Frank und damit auch das Besondere der Verfolgungssituation von Jüdinnen und Juden damals herauszustellen und mit den Jugendlichen dazu zu arbeiten.
Man kann nicht alles vergleichen: Natürlich ist ein systematisch organisierter Völkermord, wie es der Holocaust war, wo der Staat mit all seinen Institutionen daran gearbeitet hat, eine Minderheit nicht nur in Deutschland, sondern später auch in Europa zu vernichten, nicht gleichzusetzen mit dem, was heute an Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung passiert. Mit den Jugendlichen über diese Unterschiede zu sprechen, aufzuzeigen, dass wir in einer rechtsstaatlichen Demokratie leben und dass es gilt, das zu bewahren, ist auch wichtig.
Sie haben schon den Anne Frank Tag erwähnt. Welche besonderen Aktivitäten planen Sie zum 90. Geburtstag von Anne Frank am 12. Juni?
Den Anne Frank Tag gibt's jetzt schon das dritte Jahr. Aber dieses Jahr hat er natürlich nochmal eine besondere Bedeutung, weil es der 90. Geburtstag ist. Wir haben etwa 250 Schulen bundesweit, die sich in diesem Jahr daran beteiligen. Das freut uns sehr. Sie müssen wissen, es gibt allein hundert Anne Frank Schulen in Deutschland, das ist der häufigste Schulname. Und viele dieser Schulen freuen sich darüber, dass es jetzt jährlich ein konkretes Angebot gibt, weil die Schulen gerne etwas zum 12. Juni machen.
Worin besteht denn das Angebot?
Dieses Jahr steht natürlich alles unter dem Vorzeichen "90 Jahre Anne Frank". Die Schulen bekommen von uns eine sechsteilige Plakat-Ausstellung mit großen Plakaten, die über die Lebensgeschichte von Anne Frank informieren und die alle beteiligten Schulen bei sich in der Aula oder im Flur aufhängen können. Alle Schülerinnen und Schüler bekommen die sogenannte "Anne Frank Zeitung", die über die Lebensgeschichte Anne Franks informiert, dann auch noch Postkarten und Lesezeichen. Die sind so gedacht, dass die Jugendlichen sich selber auch Gedanken machen sollen: Wo werden Menschen heute aufgrund ihrer Religion oder ihrer Herkunft diskriminiert? Wo beobachte ich vielleicht selbst Ausgrenzung? Wieso ist es wichtig, heute an Anne Frank zu erinnern? Was sagt mir das persönlich? Die Schülerinnen und Schüler können diese Karten ausfüllen und die Ausstellung damit ergänzen. Rund 40.000 Schülerinnen und Schüler werden in diesem Jahr an Anne Frank erinnern.
Wie eng ist die Partnerschaft mit dem Anne Frank Haus in Amsterdam?
Wir sind ganz offiziell die deutsche Partnerorganisation des Hauses in Amsterdam. Die beiden Direktoren des Hauses sitzen bei uns im Vorstand und gestalten auf dieser Ebene unsere Arbeit mit. Alle größeren und kleineren Projekte machen wir in Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Haus. Wir haben als Koproduktion von Berlin und Amsterdam ein Anne Frank House Network, für das wir jedes Jahr auch ein internationales Treffen gestalten. Und natürlich war auch unsere neue Ausstellung "Alles über Anne" eine gemeinsame Entwicklung mit dem Anne Frank Haus.
Wir haben bei dieser Ausstellung aber auch sehr eng mit dem Anne Frank Fonds in Basel zusammengearbeitet, der uns für unsere Ausstellung noch einmal Bilder und Objekte zur Verfügung gestellt hat. Auch wenn wir die deutsche Partnerorganisation des "Hauses" sind, arbeiten wir auch mit der Bildungsstätte in Frankfurt, dem Anne Frank Fonds in Basel und internationalen Partnerorganisationen zusammen.
Patrick Siegele, geboren 1974, hat in Österreich und Großbritannien Deutsche Philologie und Musikwissenschaft studiert. Seit 2014 ist er Direktor des Anne Frank Zentrums. Von 2015 bis 2017 war er Koordinator des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus (beauftragt vom Deutschen Bundestag). Siegele ist Mitglied im Beirat des Bündnisses für Demokratie und Toleranz sowie im Forum gegen Rassismus.
Das Gespräch führte Sabine Peschel.