Anonymous' Krieg gegen den IS
5. Dezember 2015Die hochgezogenen Augenbrauen, der geschwungene Schnurrbart, das spitze Kinn. Seit der Verfilmung von "V for Vendetta" (2006) ist die Guy-Fawkes-Maske als stilisierte Version des anonymen politischen Widerstands allgegenwärtig. Die Hacker von Anonymous haben sie zu ihrem Markensymbol gemacht. Kurz nach den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 erklärten Vertreter des losen Netzwerks mit martialischen Worten dem IS den virtuellen Krieg. Die Attentate dürften nicht ungestraft bleiben, erklärt eine Person in einem Video - natürlich mit Guy-Fawkes-Maske. Anonymous kündigt in dieser Botschaft den "größten Anti-IS-Einsatz aller Zeiten" an.
Doch was ist seitdem passiert? Auf dem eigens dafür eingerichteten Twitter-Account @OpParisOfficial verkündete man bereits wenig später, mehr als 5500 Konten mutmaßlicher IS-Kämpfer und Sympathisanten bei Twitter aufgedeckt zu haben. Soziale Netzwerke schlössen seit Jahren selbständig solche Accounts, sagt Linus Neumann, Hacker, Experte für IT-Sicherheit und einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs. "Für den IS ist das kein neues Problem, wohl aber für ein paar Unbeteiligte, die Anonymous' Tatendrang zum Opfer gefallen sind."
Tatsächlich soll Anonymous auch einige Twitter-Konten von arabischsprachigen Unbeteiligten "aufgedeckt" haben. Das Online-Magazin The Daily Dot zitierte einen Sprecher des Kurznachrichtendienstes: Twitter beachte solche Listen gar nicht, weil sie "ziemlich ungenau" seien. Außerdem stünden auf ihnen neben IS-nahen Accounts auch viele Journalisten und Akademiker, die über den IS twittern.
Wer verbirgt sich hinter Anonymous?
Von Anonymous als Gruppe zu sprechen ist an sich problematisch. "Da sind auf jeden Fall verschiedenste Splittergrüppchen und Leute unterwegs, die unter dem Signé tätig sind", sagt der IT-Journalist Michael Gessat. Theoretisch kann schließlich jeder unter der Anonymous-Flagge Accounts bei allen möglichen sozialen Netzwerken eröffnen und die einschlägigen Hashtags in seine Posts bei Twitter tippen.
In der normalen journalistischen Praxis sei eine anonyme Netzquelle nicht viel wert. "Aber wenn diese Gruppe behauptet, sie sei mächtig - was ja niemand nachprüfen kann - dann wird das auf einmal newswertig", sagt Gessat. Für ihn ist die Kriegserklärung von Anonymous an den IS ein Medienhype. Er vermutet dahinter unser aller Sehnsucht, dass es im Netz jemand geben könnte, der einen Kampf für die gerechte Sache führt.
Auch Netzaktivist Stephan Urbach sieht die Aktion der Hacker kritisch. Anonymous sei als politische Gruppierung nicht greifbar. "Was soll die Kriegserklärung bringen und wem ist damit geholfen?", fragt er sich. Viele Anonymous-Leute würden glauben, dass die Strategien aus dem Arabischen Frühling auch gegen den IS funktionieren. Damals legten sie etwa die Webseiten der Regierungen mit Überlastungsangriffen lahm oder schafften es, die Internetzensur zu umgehen. Doch eine Diktatur in einem klar umrissenen Land funktioniere anders als der "Islamische Staat", sagt Urbach.
Viagra-Werbung statt Propaganda
"Gegen Menschen, die bewaffnete Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zelebrieren, sind die Wirkmöglichkeiten von Hackern relativ begrenzt", erklärt auch Linus Neumann vom Chaos Computer Club. Die Strukturen und Aktionen des IS seien kaum abhängig von IT-Systemen. Vor einigen Tagen hackte die Anonymous-nahe Gruppe Ghost Sec eine Seite des "Islamischen Staats" im Dark Web und platzierte dort Werbung für Viagra. Eine skurrile Aktion ist das auf jeden Fall. Ob die Hacker damit den Dschihadisten wirklich schaden, bleibt allerdings fraglich. "Das Verändern von Webseiten wird vom IS bestimmt als Ärgernis, sicherlich jedoch nicht als Hindernis empfunden werden, seine Angriffe und Missionen fortzusetzen", sagt Neumann.
Der einzige Bereich, in dem die anonymen Hacker vielleicht etwas bewirken könnten, sei ihre Propagandaarbeit, findet Stephan Urbach. "Der IS macht sehr gute Propaganda und Anonymous macht schon seit Jahren sehr gute Gegenpropaganda". Tatsächlich demonstrieren die Hacker in ihren Videos mit den Guy-Fawkes-Masken, den verzerrten Stimmen und ihrer Wir-vergeben-nicht-Rhetorik Macht und Handlungsfähigkeit.
IT-Journalist Michael Gessat sieht im Auftritt der Hacker gewisse Parallelen zum IS. "Auch Anonymous ist durch nichts legitimiert und betreibt außerhalb von staatlichen und gesetzlichen Strukturen Selbstjustiz." Wenn fähige Hacker - ob von Anonymous oder nicht - IS-Seiten lahm legten, hätten sie aber seinen Segen. Und natürlich könne auch jeder, der im Netz unterwegs ist, selbst neu entdeckte IS-Seiten, Rekrutierungsplattformen oder Chatkanäle melden.
Trittbrettfahrer mit Anonymous-Stempel
Die Absicht einiger Hacker, die unter der Anonymous-Flagge segeln, ist mit Sicherheit gut. Sie betrachten sich als Widerstandskämpfer. Das Problem: Jeder kann sich einen Anonymous-Stempel aufdrücken - wie er damit agiert, ist nicht kontrollierbar. Die Facebook-Seite "Anonymous Kollektiv" etwa gehört mit fast 1,5 Millionen Likes scheinbar zu den beliebtesten Social Media Accounts des losen Netzwerks in Deutschland. Wer genauer hinsieht, erkennt allerdings, dass sich die Seite zwar mit Guy-Fawkes-Bild und Anonymous-Schriftzug schmückt, inhaltlich aber eine ganz andere politische Richtung verfolgt. Ein Post erinnert mit seiner Forderung, "Propaganda-Gülle am Kiosk verrotten" zu lassen, an Pegida. Ein anderer Eintrag plädiert dafür, Angela Merkel für ihre Flüchtlingspolitik vor den Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen.
Knapp drei Wochen nach Anonymous' Kriegserklärung an den IS sieht das Ergebnis also eher dürftig aus. Der Wirbel um das lose Netzwerk ist groß, die Hoffnung, Hacker könnten im Internet dem IS trotzen, zerfällt jedoch nach und nach.