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Anton vom Dach

12. August 2009

So interessant wie illegal: In Minsk treffen sich Schüler und Studenten gern auf Dächern. Hier haben sie ihre Ruhe, wenn nicht gerade die Polizei vorbei schaut, oder sie vom nächsten Trend überrollt werden.

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Ein graues Parkhaus (Foto: Klaus Jansen)
Das nie fertig gestellte Parkhaus in Minsk ist ein Treffpunkt für junge LeuteBild: DW/Jansen
Ein Junge sitzt im Schneidersitz auf dem Dach (Foto: Klaus Jansen)
Der Student Anton hält sich gerne auf Dächern aufBild: DW/Jansen

Das Treffen mit Anton hat etwas Konspiratives: Wie nennt sich das, was wir gleich begehen werden? Hausfriedensbruch? Einbruch? Vermutlich. Aber wir sind nicht die einzigen. Wenige Meter hinter dem Loch im Zaun hocken ein paar Jugendliche auf einem Bauschutt-Hügel. Das verleiht dem ganzen einen gewissen Anstrich von Legalität. „Die waren aber zuerst da!“, lege ich mir im Kopf als eventuelle Verteidigung zurecht. Naja. Anton kennt die Jugendlichen nicht, wir grüßen kurz und gehen weiter zu unserem Ziel, dem Dach.

Durch das Schlupfloch nach oben

Die rostigen Eisenstäbe direkt im Erdgeschoss sind schon auseinander gebogen. Wir schlüpfen durch die Lücke in das 10-stöckige Gebäude. Der Betonklotz sollte mal ein Parkhaus werden, jetzt liegt er zugewildert am Rande der Minsker Innenstadt. Ein Rohbau ohne Sinn und Zweck, bis die Roofer kamen. So nennen sich die Dachmenschen selbst, und der 21 Jahre alte Anton ist einer von ihnen. Der hagere, blasse Student geht zielstrebig auf das ungesicherte Treppenhaus zu, graue unverputzte Stufen führen hier in 30 Meter Höhe, direkt bis zum Dach.

Ein Eingang, mit Pflanzen überwachsen (Foto: Klaus Jansen)
Ein Eingang zum Parkhaus, von Jugendlichen geschaffenBild: DW/Jansen

Es ist noch ziemlich früh am Nachmittag als wir aus dem Dunkel des Parkhauses treten. Ein Meer aus Teerpappe liegt vor uns, durchzogen von glitzernden Glassplittern, am Horizont kleine Absperrmauern mit Graffiti, an die sich die Umrisse von weiter entfernt liegenden Hochhaus-Siedlungen anschließen. „Hier können sich die jungen Leute einfach entspannen“, sagt Anton in ziemlich passablem Englisch. „Sie trinken Bier, sie reden. Einmal habe ich mich hier sogar auf meine Prüfungen vorbereitet. Im Sommer wird es auf den Dächern allerdings sehr heiß, da kann man sich nicht konzentrieren.“ Die meisten Roofer kämen ohnehin erst am frühen Abend, zum Ausklang des Tages, mal allein und mal in Gruppen.

Dächer statt Jugendzentren

Die weißrussische Regierung hat zwar im ganzen Land Einrichtungen für Heranwachsende gegründet, wie z. B. das „Nationale Zentrum für künstlerisches Schaffen“ oder die „Paläste der Jugend“, die deutlich weniger pompös sind als ihr Name. Aber viele Jugendliche haben ihre eigenen Ideen, was sie in ihrer Freizeit tun möchten. „Auf dem Dach kann man machen wozu man Lust hat, ohne dass man gestört wird“, meint Anton. „Für einige ist das auch ein philosophischer Ort. Kunststudenten holen sich hier ihre Inspiration.“

Die Gefahr ist immer dabei

Verlassen kann man sich auf seinen Lieblingsplatz allerdings nicht: Viele der illegalen Roofing-Plätze werden schnell wieder geschlossen, aufgebrochene Vorhängeschlösser werden ersetzt, und Türen ausgetauscht. Aber die Roofer sind schnell: Über Internet-Communities informieren sie sich gegenseitig über neue „offene Dächer“, mal auf verlassenen, und mal auf bewohnten Häusern. Den Jugendlichen geht es dabei auch um den besonderen Kick etwas Verbotenes zu tun und mit der Gefahr zu spielen. „Ich hole mir meinen Adrenalinstoß dadurch, dass ich immer höher steige. Einmal bin ich mit einem Klassenkameraden auf einen Kran geklettert, der war 35 Meter hoch, und das waren die besten Gefühle die ich je durch dieses Klettern bekommen habe“, beschreibt es Anton.

Solche Abenteuer können allerdings auch tragisch enden: 2008 stürzte im Parkhaus-Rohbau ein junges Mädchen in einen tiefen Schacht und war sofort tot. Die Stadt verriegelte daraufhin das Gebäude mit den Eisengittern, aber die ersten Lücken im Zaun waren schnell wieder da.

Geplante Abstürze

Auf dem Parkhaus-Dach ist plötzlich ein spitzer Schrei zu hören: Wir sind nicht allein. Ein großer Silo-artiger Aufbau in der Mitte des Dachs hat uns die Aussicht auf eine kleine Gruppe Jugendlicher versperrt. Sie stehen mit Seilen an der 30-Meter-Kante und blicken nach unten. Wer das sei, will ich von Anton wissen. „Wird wohl wieder so was illegales sein“, meint er, und wir gehen rüber. Ein kompliziertes Gewirr aus Seilen führt vom Silo-Aufbau zum Rand des Daches und darüber hinaus. Am Ende hängt – vielleicht noch in 10 Metern Höhe – ein blondes Mädchen. Sie baumelt hin und her und scheint glücklich zu sein.

Eine junge Frau, die mit einem Seil gesichert ist, leht sich vom Dach herunter (Foto: Klaus Jansen)
Rope-Jumper springen von Dächern, gesichert mit einem SeilBild: DW/Jansen

Der 21-jährige Alexej spricht uns an und klärt uns auf: Wir stehen einer Gruppe von Rope-Jumpern gegenüber. Sie springen vom Dach des Gebäudes und werden auf halber Höhe von einem Seil abgefangen. Das sei in etwa so als ob ein Bergsteiger abstürzt und ins Sicherheits-Seil fällt, meint Alexej. Aber wir sollten uns keine Sorgen machen: „Der Sport sieht spektakulär aus, ist aber auch nicht gefährlicher als Bus fahren.“ Sogar eine eigene Philosophie steckt laut Alexej dahinter: „Nicht jeder Mensch wird es wagen seine Angst zu überwinden und einen Schritt nach vorn zu machen“, meint er verschmitzt. Und wenn es der Schritt in den Abgrund sei.

Die Flucht nach unten

Während wir noch fasziniert nach unten blicken und sich der nächste Wagemutige das Bergsteiger-Geschirr anlegt, zischen zwei-drei 14-Jährige an uns vorbei Richtung Treppen. „Policia!“ rufen sie und sind schon im Dunkeln verschwunden. Die Polizei ist im Anmarsch, sie soll schon im Parkhaus sein, heißt es plötzlich. Die meisten Rope-Jumper bleiben überraschend gelassen, wir gehen lieber auf Nummer sicher, sprinten zu einem der Treppenhäuser, hasten möglichst leise ein paar Stockwerke herab und verstecken uns in einer dunklen Ecke. Auf der anderen Seite derselben Etage hören wir plötzlich ein Knirschen. Ein Schatten mit Schirmmütze nähert sich, wir springen auf und laufen weiter, durch Treppenhaus, durch das Loch im Eisengitter über den äußeren Zaun und weiter auf die Straße bis in einen gerade anhaltenden Tatra-Zug. Die Türen schließen sich. Jetzt erst blicken wir uns um: Gefolgt ist uns offenbar niemand.

Zweihundert Meter hinter und 30 Meter über uns reden zwei Schirmmützen auf die restlichen Rope-Jumper ein. Sie wollten ihre teure Ausrüstung nicht im Stich lassen, erfahren wir später. Die Polizei würde ihren Sport auch meist dulden, als „Charakter bildende Maßnahme und Körperertüchtigung“. Der Roofer Anton ist aber geschockt. Er wirkt noch blasser als sonst, scheint den Adrenalinstoß aber auch etwas zu genießen. Für ihn war es der erste Beinahe-Kontakt mit der Polizei, und was genau passiert wäre wenn wir erwischt worden wären kann er nicht sagen. Das werde ihn aber nicht abhalten, weiter auf die Dächer von Minsk zu steigen, sagt er als die Straßenbahn anfährt. Zumindest solange es noch warm sei. Denn im Winter würden auch die Roofer wieder ganz normal – und gingen in die Kneipe.

Autor: Klaus Jansen
Redaktion: Julia Kuckelkorn