Arbeit statt Schule
12. Juni 2013Es ist heiß in der Schreinerei. In der Luft tanzen Sägespäne und Staub, aufgewirbelt von der Säge, mit der Sattar das Holz bearbeitet. Der 14-Jährige hat sich ein Tuch um Mund und Nase gebunden, auf seiner Stirn stehen Schweißperlen. Seine geröteten Augen verraten, dass er tagtäglich harte Arbeit unter schweren Bedingungen verrichtet. Seit vier Jahren arbeitet Sattar in der Schreinerei in Afghanistans Hauptstadt Kabul. Mit großer Mühe hat er neben der Arbeit die Schule bis zur sechsten Klasse besucht. Aber seit einigen Jahren geht das nicht mehr, berichtet er. "Ich muss meine Familie ernähren", erzählt der Junge. "Zu Hause geht es uns sehr schlecht. Wären wir nicht so arm, hätte ich bestimmt nicht die Schule abgebrochen. Ich wäre lieber zur Schule gegangen, um etwas zu lernen."
Sattar verdient etwa 100 Afghani (1,40 Euro) am Tag. Er ist gezwungen, damit zum Lebensunterhalt seiner zehnköpfigen Familie beizutragen. Sein Vater ist sehr alt und nicht mehr in der Lage, für die Familie zu sorgen.
Eine Million Kinderarbeiter
Rund 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren arbeiten in Afghanistan, schätzt der Sprecher des Ministeriums für Arbeit und Soziales, Mohammad Ali Eftekhari. Doch es gebe keine offizielle Statistik über die Anzahl der Kinderarbeiter in Afghanistan, fügt er hinzu. Die Kinderrechtsorganisation UNICEF schätzt, dass etwa 17 Prozent der Mädchen und neun Prozent der Jungen zwischen sieben und 14 Jahren in Afghanistan arbeiten.
Kathrin Wieland, Geschäftsführerin der Kinderrechtsorganisation "Save The Children Deutschland e.V." bestätigt die Zahlen und weist darauf hin, dass auch noch jüngere Kinder zwischen vier und sechs Jahren darunter seien. Wieland betont jedoch, dass es sich nur um ungefähre Werte handeln kann, denn "nur rund sechs Prozent der Kinder in Afghanistan haben eine Geburtsurkunde, so dass es schwer fällt, eine offizielle Statistik aufzustellen. Zudem findet die meiste Kinderarbeit versteckt statt, vor allem die der Mädchen." Kathrin Wieland glaubt daher, dass die Zahlen sehr konservativ geschätzt sind.
Jungen arbeiten in Afghanistan häufig als Straßenverkäufer, Müllsammler oder als Arbeiter, zum Beispiel in der Landwirtschaft, beim Mohnanbau oder in der Viehzucht. Die Mädchen sind vornehmlich in Teppichwebereien oder als Hausangestellte beschäftigt. Viele Minderjährige schuften auch in Ziegelbrennereien. Die Arbeit dort sei besonders schädigend, sagen Experten. Blindheit durch die hohe Bleikonzentration im Ton, Verbrennungen und Gelenkschäden sind nur einige der Gefahren, denen die Kinder dort ausgesetzt sind. "Etwa die Hälfte der Arbeiter in afghanischen Ziegeleien sind unter 14 Jahre alt", sagt Kathrin Wieland. Auch Kinderhandel und Kinderprostitution grassieren nach ihrer Kenntnis in Afghanistan. Zudem würden viele Kinder von den Taliban als Selbstmordattentäter missbraucht.
Teufelskreis Armut
Die Hauptursache für die hohe Kinderarbeit in Afghanistan ist die Armut, hinzu kommt, dass viele Kinder Waisen sind oder keinen Vater mehr haben - beides Konsequenzen des über drei Jahrzehnte andauernden Krieges. Die heute weit verbreitete Kinderarbeit werde in der Zukunft die afghanische Gesellschaft belasten, fürchtet Kinderrechts-Expertin Wieland. "Das Problem ist, dass die Kinder nicht zur Schule gehen und so dem Teufelskreis der Armut nicht entrinnen können." Viele Kinder bleiben daher solange in ihren Jobs, bis sie körperlich ausgezehrt sind. "Das heißt, sie werden wahrscheinlich niemals eine vernünftige Arbeit erhalten können und irgendwann als Bettler enden."
Afghanistans unabhängige Menschenrechtskommission kritisiert, dass die Regierung sich nicht mehr für die betroffenen Kinder einsetzt. Afghanistan habe zwar die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, die Regierung habe jedoch nicht genug Maßnahmen zum Schutz der Kinder ergriffen, so Shamsullah Ahmadzai, Vorsitzender der Regionalbüros der unabhängigen Menschenrechtskommission. Die bisherigen Hilfsprojekte für Kinderarbeiter dauerten nur maximal ein Jahr, kritisiert er. Danach gingen die Kinder wieder ihrer gewohnten Arbeit nach. "Die Regierung hat die Verantwortung, für die Sicherheit der Kinder zu sorgen. Leider steht aber für die Regierung die Bekämpfung der Aufständischen im Vordergrund."
Nachhaltige Maßnahmen
Das Ministerium für Arbeit und Soziales sagte der Deutschen Welle auf Anfrage, dass es bereits eine Strategie für die Beseitigung der Kinderarbeit in Afghanistan vorbereitet habe, die aus dem Regierungsbudget finanziert werden soll. Die unabhängige und weltweit arbeitende Kinderrechtsorganisation "Save The Children" bietet in neun Provinzen Afghanistans so genannte Brückenschulen an, die den Kindern erlauben, nach der Arbeit zur Schule zu gehen, eine warme Mahlzeit zu bekommen und somit dennoch ihre Bildung abzuschließen. Auf diesem Weg werden nach Angaben der Organisation 32.000 Kinder erreicht.
Auch Sattar wünscht sich, dazu zu gehören: "Wäre ich doch in einer besseren Lebenslage und könnte etwas lernen, dann hätte ich ein besseres Leben", seufzt er. Die afghanische Regierung solle die bestehenden Gesetze umsetzen und den Kindern die Möglichkeit geben, zur Schule zu gehen, fordert er. Alle Maßnahmen zur Verringerung der Kinderarbeit müssen langfristig angelegt und nachhaltig sein, sagen Experten. Nur dann hätten Kinder wie Sattar eine Chance, eines Tages doch eine Ausbildung zu machen und einen richtigen Beruf zu erlernen.