Rätsel um Stadtmauer von Jerusalem
24. August 2020Es war eine kleine Sensation in der Wissenschaftswelt. "Das Ende eines Mythos" - so lautete der Titel der Pressemitteilung des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEIAHL) in Jerusalem.
Jahrelange Grabungen hatten ein überraschendes Ergebnis hervorgebracht: Die historische eisenzeitliche - also alttestamentliche - Stadtmauer im Süden Jerusalems ist nicht da, wo man sie lange Zeit vermutet hatte. Der Archäologe Dieter Vieweger und sein Team hatten lange am südlichen Hang des Zionsberg nach dieser Stadtmauer aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. gesucht, um zu verstehen, wie groß die Stadt Jerusalem zur damaligen Zeit war.
Bislang waren Forscher davon ausgegangen, dass ein Teil der Stadtmauer aus der alttestamentlichen Zeit vom heutigen Zions-Tor in Richtung Hinnomtal verläuft. Ein Stück Mauer, das sich auf dem Areal befindet, war in den 1980er Jahren von dem Benediktinermönch Bargil Pixner auf das 8. Jahrhundert vor Christus datiert worden.
Coronabedingt: Grabungen ohne Volontäre
"Ich bin nicht der Mensch, der gerne Kollegen widerlegt. Ich hätte auch damit leben können, dass es aus der Eisenzeit ist. Aber jetzt haben wir wenigstens endlich einen festen Befund", sagt Dieter Vieweger und zeigt auf die verschiedenen Mauerreste in der Grabung. "Pixner meinte, er hätte sie gefunden." Der Benediktinermönch Pixner, sagt der Archäologe, habe mit seinen Datierungen biblische Berichte bestätigen wollen.
"Das hätte alles sein können, aber ich muss etwas beweisen. Es muss eindeutig sein. Und jetzt haben wir eine eindeutige Lösung. Aus der Mauer wird einfach keine Eisenzeit, da sind die Scherben eindeutig, und damit muss man leben", sagt Vieweger. Die wenigen eisenzeitlichen Scherben, die das Team gefunden hat, sprechen ebenso wie die Fundorte der jüngeren Scherben gegen die Datierung Pixners. Entnommene Proben aus verschiedenen Mauerschichten werden derzeit noch genau analysiert.
Verschüttete Stadtgeschichte Jerusalems
Seit 2015 gräbt das Team um den deutschen Archäologen Vieweger jedes Jahr im Sommer auf dem Zionsberg, um die Stadtgeschichte Jerusalems zu dokumentieren. Dieses Jahr war das Team kleiner als sonst, da Volontäre wegen der Corona-Pandemie nicht nach Israel einreisen durften.
Auf dem rund zwölf Quadratmeter großen Areal wurde etwa fünfeinhalb Meter in die Tiefe gegraben. Dabei galt die Aufmerksamkeit diesen Mauerresten, die teilweise noch im Steilhang verankert waren, "um den seit einem Jahrhundert andauernden Fragen über den Verlauf der Mauer nachzugehen".
Stadtgebiet kleiner als bisher rekonstruiert
In geschichtlichen Quellen wird berichtet, das die alttestamentliche Stadt viele assyrische Flüchtlinge aus dem Norden aufgenommen hatte. Auch deshalb wurde das Jerusalem der damaligen Zeit weit über den heute als "Davidstadt" bekannten Teil, den König David im 10. Jahrhundert erobert hatte, rekonstruiert. "Es gab im 8. Jahrhundert eine viel größere Stadt als unter David, aber nicht so groß wie wir sie maximal geschätzt haben. Das heißt, es gab wohl auch weniger Flüchtlinge als angenommen", sagt Vieweger.
Mit der Grabung haben die deutschen Archäologen auch Stadtmauern, Tore und Wohngebiete aus anderen Epochen gesichert. Die Grabungsfläche soll später für Besucher zugänglich gemacht werden. Zu sehen sind ein Teil der herodianischen Stadtmauer mit dem Essener Tor, und Teile der byzantinischen Stadtmauer aus dem vermutlich 4. Jahrhundert, die Reste eines Wohngebietes und einer Straße.
Ausgrabungen lassen Aussagen über die Bewohner des Viertels zu
Auf einem nahe gelegenen Areal wurden wertvolle Mosaike gefunden. "Wenn es um große Dinge geht, da werde alle hellwach. Aber es geht natürlich auch darum zu sehen, wer hat hier früher gewohnt, was waren das für Menschen? Wie reich waren sie? Wovon haben sie gelebt," berichtet Vieweger im DW-Gespräch über seine Grabungsarbeit.
"Das sind viele kleine Puzzlestücke, die etwas über eine Stadt oder ein Viertel sagen. Da wohnte die High Society von damals, und hier weiter unten eher die Armen mit ihren Schafen und Ziegen." Auch ohne eisenzeitliche Mauer sind dies wertvolle Funde, die Hinweise auf das Leben in den verschiedenen Epochen in oder außerhalb der Jerusalemer Stadtmauern zeigen.
Neue Grabung, neues Glück
Für das Archäologen-Team bedeutet der Fund, dass sie aufs Neue suchen müssen, um Hinweise auf den Verlauf der eisenzeitlichen Stadtmauer im Süden Jerusalems zu finden. Dieter Vieweger hofft, auf dem Gelände der Benediktinerabtei Dormitio, die auf dem Zionsberg thront, fündig zu werden.
Eine Stadtmauer müsste dem Hang entlang gebaut werden, schon deshalb vermutet er, dass die gesuchte Mauer wesentlich weiter in Richtung der heutigen Altstadt verläuft, deren Stadtmauer aus dem 16. Jahrhundert stammt.
Ausgrabungen in der Altstadt Jerusalems fast unmöglich
Die engbebaute Altstadt Jerusalems birgt kaum Möglichkeiten für Archäologen, großflächig zu graben. "Wer würde dafür schon freiwillig sein Haus abreißen?", fragt Dieter Vieweger und lacht. Zumal jede Grabung in der geteilten Stadt schnell zum politischen Minenfeld werden kann, je nachdem an welchem Ort gegraben wird.
Nach der Eroberung und Besatzung Ostjerusalems durch Israel 1967 konnten Archäologen die dramatischen Umbrüche nutzen. Damals wurde ein Teil des sogenannten marokkanischen Viertels nahe der Klagemauer abgerissen. Darunter fanden auf einer größeren Fläche Ausgrabungen statt.
"Da hat man viel Zusammenhängendes gefunden, was man sonst nicht immer finden kann", sagt Vieweger. "Wir müssen uns mit Teilstücken zufriedengeben. Also müssen wir nächstes Jahr ganz viel Glück haben auf der Dormitio. Und dann können wir vielleicht das Rätsel um die eisenzeitliche Stadtmauer lösen."