Argentinien: Armut, Inflation, hohe Gaspreise
23. Juli 2022Es ist kalt auf der Avenida Jose Antonio Cabrera in Buenos Aires. Vor allem morgens und abends, wenn die Sonnenstrahlen noch keinen Schutz vor den Wintertemperaturen bieten, kann das Thermometer auch mal Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt oder darunter anzeigen. Trotzdem sind die kleinen Läden mit Obst und Gemüse noch oder schon geöffnet.
Eine Heizung gibt es hier nicht, die Tür ist durchgehend geöffnet. Dafür trägt Ladenbesitzer Martin Gonzales einen dicken Pulli, eine Winterjacke und eine Wollmütze: "Das muss reichen. Es bringt nichts, den Laden zu heizen. Wenn wir das Tor zu machen, sehen die Kunden unsere Waren nicht mehr. Und wir leben auch von der Laufkundschaft", sagt Gonzales. "Heizen mit Gas wäre sowieso viel zu teuer."
Vor den Toren der argentinischen Metropole kämpfen die Menschen in den Armenvierteln ihren eigenen Kampf mit den hohen Energiepreisen. Allein in den letzten Tagen haben sich mehr als eine halbe Million Antragsteller registrieren lassen, um weiterhin von der staatlichen Strom- und Gasförderung Unterstützung zu erhalten. Sie soll Menschen aus den niedrigsten Einkommensschichten davor bewahren, plötzlich ohne Strom und Gas dazustehen, weil sie die Rechnung nicht mehr bezahlen können. Insgesamt hatten sich bis Mitte der Woche bereits über 1,47 Millionen Haushalte in die staatliche Liste eintragen lassen.
Dramatischer Werteverlust des Peso
Die Krise in Argentinien ist immerwährend und dramatisch. Der argentinische Peso hat allein in den letzten Wochen deutlich an Wert gegenüber dem Dollar verloren. Vor gut zehn Tagen gab es für 100 US-Dollar in den Wechselstuben noch 25.000 argentinische Pesos, inzwischen sind es fast 34.000 Pesos. Ein Wertverlust von fast 33 Prozent beim sogenannten Dollar Blue, dessen Kurs das Wirtschaftsleben entscheidend bestimmt und der einen direkten Einfluss auf die alltäglichen Preise hat.
Lebensmittel, Treibstoff, Transport - eigentlich alles wird ständig teurer. Preisschilder werden wöchentlich - manchmal täglich aktualisiert. Die argentinische Regierung um Präsident Alberto Fernandez versucht gegenzusteuern. Vor wenigen Tagen gab es einen Wechsel an der Spitze des Wirtschaftsministeriums. Auf Martin Guzman folgte Silvina Aída Batakis. Sie ist praktisch seit der ersten Stunde im Amt damit beschäftigt, die Märkte irgendwie zu beruhigen. Bislang ohne Erfolg.
Alles dreht sich um den Dollar und darum, irgendwie an diese Währung zu kommen. Argentinische Pesos zu sparen macht praktisch keinen Sinn, weil die Inflation die Werte des Sparguthabens vernichtet. Deswegen versuchen die Menschen an Dollars zu kommen, um sich so ein Polster zu verschaffen. Das führt bisweilen zu bizarren Szenen. Auf einer Müllhalde Las Parejas in Santa Fe suchen in diesen Tagen Dutzende Menschen nach dort vermuteten Dollars. Nachdem dort zunächst Mitarbeiter der Deponie rund 50.000 Dollar in einem weggeworfenen Möbelstück gefunden hatten, versammelten sich Nachbarn auf dem Gelände, um ebenfalls nach weiteren Scheinen zu suchen. Sogar nachts wird mit der Taschenlampe weitergesucht.
"Argentinien ist ausgeraubt worden"
Längst ist im Land eine Debatte darüber entbrannt, wer die Schuld für die Misere trägt. "Argentinien ist ausgeraubt worden", sagt der immer populärer werdende Sozialaktivist Juan Grabois im Gespräch mit der DW. Schuld sei der Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (IWF), den die Vorgängerregierung von Mauricio Macri aufgenommen habe. Dieser Kredit sei Grund für die hohen Schulden des Landes.
Dem widerspricht Rebeca Fleitas, Abgeordnete der marktliberalen Partei La Libertad Avanza in Buenos Aires um den immer mehr ins Rampenlicht rückenden Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei. Sie sieht im Gespräch mit der DW den Fehler im aktuellen argentinischen Geschäftsmodell, der das Land immer wieder zurückwerfe: "Unser Wirtschaftssystem ist krank. Der private Sektor ist viel zu schwach, wir produzieren viel zu wenig. Dafür haben wir einen viel zu aufgeblähten Staatsapparat."
Die Debatte über die Schuldfrage am aktuellen argentinischen Absturz hilft allerdings den Menschen vor Ort allerdings erst einmal nicht weiter. In Argentinien leben laut jüngsten Angaben 37,2 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, das entspricht der enormen Zahl von 17,4 Millionen Menschen. Für sie ist die aktuelle Inflationsentwicklung eine humanitäre Katastrophe, weil die ohnehin schon wenigen Pesos immer weniger wert werden.
Egal wie hart sie arbeiten, es reicht nicht mehr zum Überleben. In Argentinien ist zu beobachten, was passiert, wenn eine Gesellschaft wirtschaftlich abstürzt: Die Folge sind auch eine wachsende Kriminalität und Unsicherheit auf den Straßen. Der Überlebenskampf wird immer härter, der Riss in der Gesellschaft immer tiefer.