Argentinien: Wahlsieg aus Angst vor dem Anarchokapitalisten
23. Oktober 2023Schon um 21 Uhr wurden am Wahlsonntag die ersten Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen veröffentlicht, die in Argentinien, aber auch im Ausland sorgenvoll erwartet worden waren. Dass der Regierungskandidat Sergio Massa im ersten Wahlgang die meisten Stimmen gewinnen würde, kam für alle Beobachter überraschend. Immerhin ist er als Wirtschaftsminister der amtierenden linksgerichteten Regierung Argentiniens wesentlich mitverantwortlich für die wirtschaftliche Misere, in der das südamerikanische Land steckt. Massa wird am 19. November in einer Stichwahl gegen den libertären Rechtspopulisten Javier Milei antreten müssen, da keiner der beiden 40 Prozent der Stimmen erreichen konnte.
"Gerade weil es ein unerwarteter Triumph ist, geht Massa gestärkt aus diesem Ergebnis hervor", sagt Pablo Semán, Forscher am Nationalen Rat für wissenschaftliche und technologische Forschung (CONICET) und Professor an der Universität von San Martín, gegenüber der DW.
Paradoxer Triumph eines Ministers
Es ist paradox, dass die Mehrheit der Argentinier ihre Stimme demjenigen gegeben haben, der die schwere Wirtschaftskrise bisher nicht in den Griff bekommen hat. Pablo Somán erklärt es so: "Sergio Massa verkörpert gleichermaßen Wandel, Kontinuität und Mäßigung, ganz im Gegensatz zur Radikalität von Javier Milei." Die Argentinier hätten Massa nicht als Vertreter der Regierung wahrgenommen.
Währenddessen verkündet Milei, er habe die "Mafia" besiegt, da Massa die Wahl nicht in der ersten Runde für sich entschieden und die konservative Kandidatin Patricia Bullrich den dritten Platz belegt habe. Da Bullrich jede Zusammenarbeit mit der amtierenden peronistischen Regierung ablehnt, könnte sich ein Teil ihrer Wählerschaft in der Stichwahl für den libertären Kandidaten Milei entscheiden.
Angesichts "einer komplizierten Regierung, einer völlig desaströsen Wirtschaft, einer galoppierenden Inflation und einem explodierenden Dollar" sei der Erfolg von Massa "wirklich ein Wunder", sagt Jaime Rosenberg, Politikredakteur der Zeitung "La Nación" im Gespräch mit DW. Er habe es nicht nur in die Stichwahl geschafft, sondern sei auch "der am besten positionierte Kandidat" für die nächste Runde - dann könne er sogar die Anhänger der linken Kandidatin Myriam Bregman und des Zentristen Juan Schiaretti für sich gewinnen. Der Journalist warnt aber auch: Sichere Vorhersagen seien nicht möglich.
Klar ist bisher, dass die libertäre Ultrarechte von Javier Milei ab Dezember mit 39 Sitzen in der Abgeordnetenkammer und acht Sitzen im Senat die dritte Kraft werden wird. Sollte sich das Wahlergebnis so konsolidieren, wird der Peronismus weiterhin die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren stellen.
Selbst Milei-Wähler fürchten Milei
Der rasante Aufstieg von Javier Milei hat bei vielen Argentiniern Sorgen ausgelöst, weil seine Vorschläge radikal sind: Er will die Zentralbank schließen, das Bildungssystem privatisieren und die Beziehungen zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern Brasilien und China abbrechen. Viele Menschen haben Angst vor einer Wiederholung der Finanzkrise wie 2001 und vor einer internationalen Isolierung des Landes.
Der Anthropologe und Soziologe Semán hat bei einer Umfrage unter Anhängern der Milei-Partei La Libertad Avanza festgestellt, dass zehn Prozent von ihnen mit Milei und seinen radikalen Plänen politische Ängste verbinden. "Ich glaube, dass die Argentinier einen sehr starken Wunsch nach Veränderung haben, der sich in Milei personifiziert", meint Semán. "Aber dieser Wunsch hat in ihm auch ein schlechtes Instrument gefunden."
Kann Massa Gräben überwinden?
Sergio Massa dagegen habe ein Profil, das sowohl Peronisten als auch Nicht-Peronisten anspreche, sagt Semán. In seiner ersten Ansprache nach Bekanntgabe der Ergebnisse habe Massa sich an die linken Wähler von Myriam Bregmann und an die zentristischen Anhänger von Juan Schiaretti gewandt und versucht, ihnen eine Brücke zu bauen. Er versprach "Ruhe" und "Sicherheit". Auch Teile der konservativen Wählerschaft von Patricia Bullrich könnten in der Stichwahl für Massa stimmen.
Doch könnte ein Sieg von Sergio Massa auch das Ende der politischen Spaltung in Argentinien einleiten? "Massa versucht, die alte Formel des 'Peronismus versus Anti-Peronismus' aufzubrechen", meint Semán. "Milei erleichtert ihm das mit seinen eigenen spaltenden und extremen Botschaften."
Massa hat gute Beziehungen in den USA - die könnte er als Staatschef außenpolitisch noch effektiver nutzen, meint Jaime Rosenberg. Seine Regierung würde auch nicht - wie unter dem derzeitigen Präsidenten Alberto Fernandez - die Nähe zu Ländern wie Venezuela, Nicaragua oder Kuba suchen.
Wirtschaftspolitisch müsste Massa, sollte er sich in der Stichwahl am 19. November durchsetzen, einen Stabilitätsplan aufstellen und alles dransetzen, schnellstmöglich aus der Inflationsspirale herauszukommen. Stabile und berechenbare Maßnahmen in der Wirtschaft und Finanzpolitik sind die größten Herausforderungen, vor denen die nächste argentinische Regierung steht, die ab dem 10. Dezember amtieren soll.