Argentinische Dramen
28. November 2012Die Stadt liegt am Ende der Welt: 14 Flugstunden von Berlin, 8.000 Kilometer von Mexiko-Stadt und Johannesburg, 17.000 Kilometer von Tokio entfernt. Also auf nach Buenos Aires, nur um in die Oper zu gehen und sieben Stunden lang Wagners Ring durchzusitzen? Echte Wagnerianer wie meine Freunde Rudolf und Heinz stellen sich diese Frage nicht. "Der ganze Ring an einem Tag? Na, das wollen wir mal sehen!". Sie, die seit 40 Jahren keine Saison in Bayreuth auslassen, haben sich - halb skeptisch, halb neugierig - auf den Weg gemacht.
Einstürzende Kulturbrücken
Erster Grund für Buenos Aires: so ein "Ring des Nibelungen" in Kompaktfassung, autorisiert von Katharina Wagner, der Erbin auf dem Grünen Hügel, ist eine geniale Idee. Ideal für Einsteiger, ein Muss für Fortgeschrittene. 136 Jahre nach der Uraufführung hat sich der Arrangeur Cord Garben zugetraut, das stellenweise durchaus langatmige Bühnenfestspiel auf die Hälfte einzudampfen. Der ganze Ring, aufgeführt an einem Abend, statt wie üblich zu sehen an vier Tagen. Ein reizvolles Spiel mit dem Gesamtkunstwerk, das natürlich nicht jeden überzeugt. "Es funktioniert - auf dem Papier...", befürchtete ein Sänger nach den Proben.Dass Katharina Wagner als Regisseurin vor wenigen Wochen frustriert abgesprungen ist, hat nichts mit dem Konzept zu tun. Sie hat sich verheddert im Kommunikationsfiasko zwischen den beiden um sich selbst kreisenden Kulturfestungen Bayreuth und Teatro Colón. Ein Paradebeispiel dafür, wie die von den Politikern formelhaft beschworenen "kulturellen Brücken" auch im Nichts enden können.
Oper für die Neue Welt
Das Teatro Colón, Legende eines Opernhauses, argentinischer Kulturmythos - Grund Nummer zwei für Buenos Aires. Die beste Akustik der Welt, sagen meine Wagner-Freunde. Eine Architektur wie aus dem Bilderbuch der Belle Époque: Wien, Mailand, Paris, von allem etwas.Bauhistoriker nennen es Eklektizismus, "Best of" würde man heute dazu sagen. Die eingewanderten "Porteños" wollten es der Alten Welt, die sie verlassen hatten um in dieser Hafenstadt ein neues Leben aufzubauen, einmal richtig zeigen; und gleichzeitig beweisen, dass sie kulturell ganz auf Augenhöhe mit Europa spielten. Stolz und Selbstzweifel - das argentinische Drama.
Stadt für Flaneure
Womit wir beim dritten Grund sind, um nach Buenos Aires zu reisen: Buenos Aires! Schenken wir uns die Klischees von Tango, Fußball, Steaks und Gauchos. Dann bleibt immer noch die kulturell lebendigste Stadt Lateinamerikas.Bogotá ist hipper, Rio de Janeiro spektakulärer, São Paulo dynamischer? Mag sein. Aber wo sonst kann man in einem geschichtsschwangeren Kaffeehaus seinen Solo trinken, gleich nebenan in einer der zahllosen Buchhandlungen stöbern und nach einem rustikalen Steak den Einwohnern beim Tango zusehen? Wir flanieren durch die Stadtviertel - das laute Microcentro, das elegante Recoleta, das junge Palermo, immer wieder auf den Spuren des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, purpurfarben leuchten die Jacaranda-Bäume im Meer der Häuser.
Gelebte Alltagsmythen
Also doch wieder alle Klischees bedient? Vielleicht liegt es daran, dass Buenos Aires seine Mythen so überzeugend lebt wie keine andere Metropole: als trotzige Antwort auf den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg, der überall beschworen wird. "Niemand versteht es, sich so elegant in der Niederlage zu suhlen wie wir Argentinier", schreibt der Autor Martín Caparrós in seinem klugen Generationenroman "Wir haben uns geirrt". Selbstzweifel, Stolz und immer eine Portion Drama. Spätestens an dieser Stelle muss dann auch noch das Stichwort Fußball fallen. Der Vollständigkeit wegen.
Das Kulturdrama um den "Colón Ring" ist ja zum Glück gut ausgegangen. Es hat sich also aus ganz unterschiedlichen Gründen gelohnt, in Buenos Aires dabei zu sein.