Dokumente des Grauens
3. September 2019Das Archiv der Nazi-Gräuel befindet sich ausgerechnet im beschaulichen Städtchen Bad Arolsen in Nordhessen. Die "Arolsen Archives - International Center on Nazi Persecution" sind ein Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit und den Holocaust. Hier lagern mehr als 50 Millionen Unterlagen über rund 17 Millionen Opfer des Nationalsozialismus.
Ich treffe hier den Franzosen Jean-Paul Garcia. Er ist mit seinem Wohnwagen den weiten Weg von Bordeaux gekommen, um persönliche Gegenstände seines Vaters Antonio Garcia, eines Kriegsgefangenen, entgegen zunehmen. Dieser war aus dem Spanien Francos geflüchtet, um sich der französischen Résistance anzuschließen. 1944 wurde er von den Nazis verhaftet und in ein Zwangsarbeitslager gesteckt.
Am Ende des Krieges wurden rund 5000 Objekte von Nazi-Opfern zunächst dem Roten Kreuz und später dem Arolsen Archiv übergeben: Uhren, Schmuck, Briefe oder Fotos aus den Konzentrationslagern, hauptsächlich Neuengamme und Dachau. Das Archiv ist nicht Eigentümer der Gegenstände, sondern verwahrt sie nur in der Hoffnung, sie irgendwann an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgeben zu können.
Penible deutsche Bürokratie
Heute befinden sich noch etwa 3000 persönliche Gegenstände hier, und die Mitarbeiter des Zentrums bemühen sich weiter unermüdlich, die Eigentümer ausfindig zu machen. Für Jean-Paul Garcia und seine Frau ist es ein sehr emotionaler Besuch, als sie eine Uhr, einen Lebensmittelgutschein und einen Ring ausgehändigt bekommen.
Während die Nazis am Ende des Krieges alles versuchten, um die Spuren ihrer Verbrechen auszulöschen, stand ihnen schließlich das im Wege, was Deutschland vielleicht am besten kann: Bürokratie. Es gab einfach zu viele schriftliche Nachweise ihrer Taten. In einem früheren Lagerhaus warten jetzt unendliche Reihen von Aktenordnern und Karteien auf eine dauerhafte Bleibe in einem sichereren Gebäude.
Schmerzhafte Geschichte
Ich war eigentlich hergekommen, um Filmaufnahmen im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges zu machen. Als ich an diesem Tag damit fertig war und beflügelt von der Begegnung mit Jean-Paul Garcia, kam ich auf die Idee, nach der Geschichte meiner eigenen Vorfahren zu fragen. Es geht um meine Urgroßonkel. Ich hatte eine vage Erinnerung, dass sie in einem Zwangsarbeitslager interniert gewesen waren. Ich muss dazu sagen, dass ich aus dem Elsass stamme, das im Laufe der Jahrhunderte immer wieder abwechselnd von Deutschland und Frankreich beherrscht wurde und dessen Geschichte im Zweiten Weltkrieg besonders kompliziert war. Die meisten elsässischen Familien haben eine schmerzvolle Vergangenheit. Sei es, weil einige ihrer Mitglieder ins Exil gingen, in Lager geschickt wurden oder mit den Nazis kollaborierten.
Obwohl in meiner Familie nie irgendetwas in der einen oder anderen Richtung gesagt worden war, hatte ich doch Angst, zu tief zu graben, weil ich befürchtete, etwas Hässliches über meine Verwandten herauszufinden. Doch die Mitarbeiterin des Arolsen-Archivs wollte mir helfen. Sie gab meinen Familiennamen in ihren Computer ein, einen sehr seltenen Namen, der in ganz Frankreich nur ein paar dutzendmal auftaucht.
Ein Klick genügt oft
Weniger als eine Minute später wurde sie fündig. Man muss auf der Webseite nur einen Namen oder einen Suchbegriff eingeben. "Hier sind sie", sagte sie lächelnd, überprüfte das Ergebnis mit den Karteien und nahm schließlich einen kleinen Stapel mit Karten und dem Buchstaben B heraus. "Schauen Sie, Ludwig, Anton, Pantaleon, Xaver, sie stehen hier alle." Ich kenne die Namen, nur waren es die eingedeutschten Formen von Louis, Antoine, Pantaleo und Xavier. Vor einigen Jahren hatte ich ein wenig Ahnenforschung betrieben und herausgefunden, dass die vier Urgroßonkel nach Deutschland verschleppt worden waren, ich wusste nur nicht warum. Die Archivarin kannte die Antwort: "Wir haben Unterlagen. Einen Augenblick, bitte."
Ich folgte ihr durch das Gebäude, und sie öffnete einen dicken Ordner mit Kopien von Gerichtsprotokollen. Louis B. hatte danach zusammen mit einigen Freunden vor Gericht gestanden, weil er Kommunist gewesen war und Flugblätter verteilt hatte. Das brachte ihm eine sechsjährige Gefängnisstrafe ein, die am 15. April 1943 begann. Seine Brüder, deren Prozessprotokoll ich nicht fand, wurden im darauffolgenden November festgenommen und zu verschiedenen Strafen verurteilt. Ihre angeblichen Vergehen liefen nach den Urteilen auf Hochverrat hinaus, konkret, weil sie den britischen Sender BBC gehört hatten.
Offene Fragen
Ich fotografierte alle Unterlagen und dachte bereits darüber nach, was ich meiner Familie über meine Entdeckungen erzählen wollte, als die Archivarin mich darauf hinwies, dass die Eingabe des Namens noch viele weitere Treffer ergeben hatte, alle aus Polen, und dass sich einige Personen in Berlin niedergelassen hatten, bevor sie nach Polen zurückgebracht wurden. Konnte es also sein, dass in Berlin, wohin ich vor fast zehn Jahren gezogen bin, einmal entfernte Verwandte gelebt hatten, die von den Nazis umgebracht worden waren?
Als ich an dem Tag das Archiv besuchte, hatte ich keine Ahnung, dass ich Spuren meiner eigenen Familiengeschichte finden würde. Doch bei diesem kurzen Besuch fand ich mehr über sie heraus, als ich je vorher gewusst hatte, und dass es noch viel mehr zu entdecken gibt.