Atomkraft in Ungarn: grün, günstig, unabhängig?
27. November 2021Während Deutschland aus der Atomenergie aussteigen will und zahlreiche EU-Staaten schon jetzt vollständig ohne sie auskommen, setzen andere im Kampf gegen den Klimawandel verstärkt auf Kernkraftwerke. Neben günstigen Strompreisen und erhöhter Unabhängigkeit werden dabei besonders die geringen Schadstoffemissionen als Argumente angeführt. Aber kann Atomkraft ein Weg aus der Klimakrise sein?
Atomkraft spaltet EU
Ja, sagt die ungarische Regierung - und ist damit bei weitem nicht allein. "Um den Klimakampf zu gewinnen, brauchen wir nukleare Energie", heißt es in einem Mitte Oktober 2021 veröffentlichten Statement von zehn EU-Mitgliedsstaaten, darunter auch Finnland, Tschechien und Polen.
Federführend bei der Erstellung war der Atomkraft-Befürworter Frankreich, das derzeit in neuartige Reaktoren aus eigener Entwicklung investiert. Ungarn will derweil sein Kernkraftwerk russischer Bauart erweitern. Es steht in der Kleinstadt Paks an der Donau, keine zwei Autostunden südlich von Budapest. Neben den vier bisherigen Blöcken sollen nun zwei weitere entstehen - Paks II.
Gut für Umwelt und Verbraucher?
Sucht man nach den Gründen für den nuklearen Ausbau, verweist die ungarische Regierung auf ökologische und ökonomische Aspekte. "Es gibt keinen Klimaschutz, keine grüne Zukunft und keine niedrigen Nebenkosten ohne Atomenergie", teilt das speziell für Paks II zuständige Ministerium auf Anfrage der DW mit. In Ungarn sei Atomenergie, besonders aufgrund geographischer Gegebenheiten, die einzige Technologie zur Stromerzeugung, die zuverlässig, in industriellem Maßstab und ohne Schadstoffemissionen funktioniere. Zudem garantiere sie günstige Energiepreise und eine langfristige Deckung des Energiebedarfs.
Ob Atomstrom tatsächlich Vorteile für die Umwelt bringt, ist höchst umstritten. Abgesehen von den katastrophalen Auswirkungen potenzieller Reaktorunfälle sowie der immer noch ungelösten Frage nach der adäquaten Lagerung von Atommüll, sind auch niedrigere Emissionen bei weitem nicht garantiert. Eine 123 Länder umfassende Untersuchung, die vergangenes Jahr im Wissenschaftsmagazin Nature erschien, kam zu dem Ergebnis, dass die tatsächlichen Emissionen in Ländern mit Atomkraft nicht signifikant niedriger sind als in solchen ohne.
Neuer Block in seismisch aktiver Zone
Das Kernkraftwerk in Paks habe außerdem Auswirkungen auf Flora und Fauna in der direkten Umgebung, betont András Perger, Klima- und Energie-Experte von Greenpeace Ungarn. Durch das Einleiten von Kühlwasser in die Donau könne deren Temperatur merklich steigen, besonders bei niedrigem Wasserstand und wenn alle Blöcke liefen. "Bereits jetzt ist das Kühlwasser der bedeutendste Umwelteinfluss", so Perger. Gesetzlich erlaubt ist eine maximale Wassertemperatur von 30 Grad innerhalb einer 500-Meter-Zone flussabwärts des Kraftwerks. Im August 2018 erreichte die Donau dort laut Angaben des Betreibers zwischenzeitlich kritische 29,8 Grad. Inoffizielle Messungen des Thinktanks Energiaklub zeigten sogar Temperaturen deutlich über dem Grenzwert an.
Auch die Lage der neuen Blöcke in einer seismisch aktiven Zone hebt Perger hervor. Sie wecke Zweifel daran, ob bei der Auswahl des Standorts alle Vorschriften beachtet worden seien. Diese Einschätzung teilt auch das Umweltbundesamt im Nachbarland Österreich, das in einem Gutachten vom Sommer dieses Jahres den Standort von Paks II als "ungeeignet" bezeichnet. Die ungarische Regierung beharrt darauf, dass alle notwendigen Untersuchungen durchgeführt wurden und der Standort 2017 als nicht erdbebengefährdet eingestuft worden sei.
Wie unabhängig ist Atomkraft?
Die neuen Reaktorblöcke seien nicht nur sicher, sondern garantierten Ungarn auch erhöhte energetische Unabhängigkeit, führt das staatseigene Unternehmen MVM auf seiner Homepage an. Experten sind sich allerdings uneins, ob die Meiler die verhältnismäßig hohe Importrate Ungarns tatsächlich verbessern - sowohl Technologie als auch Brennstoffe stammen aus Russland. In Anbetracht dessen sei auch Atomenergie letztlich ein Import, womit insgesamt etwa drei Viertel des Energiehaushalts von außerhalb der Landesgrenzen kämen, so eine Studie aus dem Jahr 2020.
Die Entscheidung der ungarischen Regierung, trotzdem weiter auf russische Atomkraft zu setzen, habe verschiedene Gründe, sagt Dr. András Deák, einer der Autoren der Studie. Grundsätzlich stimme es, dass Ungarn nicht über nennenswerte Rohstoffvorkommen verfüge, anders als etwa Polen. "Historisch gab es keine Energieträger im Land", so Deák, weshalb sich der Bau eines sowjetischen Atomkraftwerks in den 1970er- und 1980er-Jahren angeboten habe. Nach dem Ende des Realsozialismus blieb ein Konsens pro Atomkraft weitestgehend bestehen.
Niedrige Energiepreise als Wahlkampfversprechen
Für die nationalkonservative Partei Fidesz von Premierminister Viktor Orbán dürften auch Wahlkampfversprechen eine Rolle gespielt haben. Energiepolitik ist für sie schon länger ein zentrales Thema. "2014 hat sich Fidesz stark auf die Senkung von Haushaltsnebenkosten konzentriert, wofür niedrige Gaspreise vom größten Importeur gesichert werden mussten: von Gazprom", sagt Deák. Ein Vertragsabschluss mit Russlands staatlichem Atomkonzern Rosatom könnte dabei ein begünstigender Faktor gewesen sein.
Aus Sicht der Regierung waren die bereits laufenden Reaktoren russischer Bauart ausschlaggebend - man wolle an einem Standort nicht zwei verschiedene Technologien, das führe nur zu Problemen, rechtfertigte Orbán die Entscheidung im Parlament. "Deswegen muss, wenn wir Atomkraft wollen, diese notwendigerweise russisch sein", so der Premierminister.
Mangelnde Transparenz
Die direkte Vergabe des Vertrags an Rosatom sorgt für scharfe Kritik bei Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, ebenso wie die Finanzierung des Projekts mit einem russischen Kredit von über 10 Milliarden Euro. Ein relativ hoher Zinssatz von etwa vier bis fünf Prozent sowie der Kursabfall des ungarischen Forint könnten die Kosten für den Steuerzahler am Ende deutlich über die angesetzten 12,5 Milliarden Euro steigen lassen.
Kritiker bemängeln außerdem, dass die Regierung den Vertrag zu einer Frage der nationalen Sicherheit erklärt hat und - dank einem eigens dafür verabschiedeten Gesetz - die Akten 30 Jahre unter Verschluss halten kann. Mit Forderungen nach Akteneinsicht zogen fünf NGOs vor das ungarische Verfassungsgericht, scheiterten dort jedoch. Das Gesetz schränke die Informationsfreiheit nicht unverhältnismäßig ein, befand das Gericht, dem immer wieder mangelnde Unabhängigkeit vorgeworfen wird.
Wenig Hoffnung für Atomkraftgegner
Anders als in Deutschland oder Österreich gibt es in Ungarn keine breite Anti-Atomkraftbewegung. Verschiedene Umfragen legen zwar nahe, dass - besonders nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 - eine Mehrheit der Ungarn der Laufzeitverlängerung und dem Ausbau von Paks eher ablehnend gegenübersteht.
Doch die Hürden für einen Ausstieg aus dem Vertrag für Paks II oder gar der Atomkraft insgesamt sind hoch: Neben steigenden Energiepreisen für Verbraucher drohen auch hohe Entschädigungszahlungen an Russland.