Drogentod in den Straßen von Glasgow
8. März 2020Es ist eine bitterkalte Nacht in Glasgow, der größten Stadt Schottlands. Um sich gegen die winterliche Kälte zu schützen, hat Kevin Barry Duffin die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Er wärmt seine Hände an einer dampfenden Tasse Kaffee. Er lächelt breit - doch hinter den Augen des Obdachlosen liegt Traurigkeit.
"Zuerst war es Kodein. Dann Heroin, da war ich 26. In den letzten vier Jahren war es Koks. Ich wurde als Kind missbraucht. Das hat mich kaputt gemacht. Ich nahm Drogen, um den Schmerz zu überdecken", sagt er.
Duffin ist einer von Hunderten Menschen, die auf den Straßen Schottlands umherstreifen. Sparpolitik und Kürzungen der kommunalen Haushalte ließen die Zahl der Obdachlosen in den letzten Jahren in die Höhe schießen.
Die Regierung hat sich zwar zum Ziel gesetzt, die Obdachlosigkeit endgültig zu beenden. Doch neue Studien zeichnen ein beunruhigendes Bild. Im Jahr 2018 starben fast 195 Obdachlose. Das ist ein Anstieg von 19 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Und gemessen an der Bevölkerung sind es mehr als doppelt so viele wie in England und Wales.
Gefangen in einer Abwärtsspirale
Die tatsächliche Todeszahl könnte noch höher ausfallen, sagen Forscher des National Records of Scotland (NRS). Für Kevin, der selbst leicht in der Statistik hätte auftauchen können, ist das keine Überraschung. "Seitdem ich nach Glasgow kam, bin ich über 15 Mal fast an einer Überdosis gestorben. Und sie holen mich immer wieder ins Leben zurück."
Sein Fall ist nicht ungewöhnlich. Von den 195 toten Obdachlosen im Jahr 2018 starben mehr als die Hälfte an Drogenmissbrauch. Oft spritzen sich Süchtige Heroin zusammen mit Kokain - die Methode ist als Snowballing bekannt. Laut Behörden ist sie mit einem zehnfachen Anstieg der HIV-Fälle in Glasgow verbunden. Duffin ist ebenfalls betroffen.
Bei ihm, wie bei Tausenden anderen, überschneiden sich zwei nationale Probleme: Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch. Mit 218 Drogentoten pro Million Einwohner verzeichnet Schottland die höchste Rate in Europa.
Um das Problem zu lösen, stehen mehrere Ansätze zur Debatte: Der persönliche Drogenbesitz könnte legalisiert werden, um die Abwärtsspirale durch eine Gefängnisstrafe zu verhindern. Außerdem könnten "sichere Konsumräume" eingeführt werden, in denen Süchtige während der Einnahme professionell beaufsichtigt werden. Auch eine verstärkte Verschreibung von Ersatzdrogen wie Methadon könnte helfen, die Zahl der Drogentoten zu reduzieren.
Persönliches Trauma aufarbeiten
Was Drogenmissbrauch und Obdachlosigkeit gemeinsam haben: Fast immer steckt ein persönliches Trauma dahinter. "Viele der Menschen brauchen für gleich mehrere Probleme eine Behandlung. Etliche haben Schwierigkeiten mit ihrer psychischen Gesundheit", sagt Paul McMillan*. Er arbeitet ehrenamtlich für See The Invisibles, eine Glasgower Organisation, die sich für Obdachlose einsetzt.
Jede Woche geht McMillan mit anderen Freiwilligen durch die Straßen Glasgows und verteilt Kleidung, Essen und Schlafsäcke. Zugleich versuchen die Helfer, Obdachlose vor einem weiteren Feind zu schützen: der Einsamkeit. "Die Leute mögen es einfach, wenn man sie normal und freundlich behandelt. Viele von ihnen können nicht glauben, dass man ihnen etwas geben und ihnen helfen will", sagt McMillan.
Doch Gespräche und freundliche Gesten reichen nicht aus. Es sind vor allem mehr Schlafplätze nötig, um Todesfälle zu verhindern. Viele Obdachlose haben zwar Zugang zu provisorischen Unterkünften, die von den Kommunen bereitgestellt werden, aber diese Unterkünfte bieten oft keinen ausreichenden Schutz. Berichte über Gewalt und zügellosen Drogenkonsum sind weit verbreitet. "Es geht dort offenbar ziemlich wild zu", sagt McMillan. "Jede Nacht können Türen eingetreten werden. Viele fühlen sich auf der Straße tatsächlich sicherer."
Seiner Meinung nach müssen wirklich "geschützte" Unterkünfte bereitgestellt werden. Diese sollten fernab von den einschlägigen Drogen-Hotspots liegen, um den Kreislauf aus Verzweiflung und Drogenkonsum zu durchbrechen. Es müsse auch eine solide psychische Unterstützung für die Obdachlosen geben. Denn immerhin zwölf Prozent der Todesfälle im Jahr 2018 werden als Selbsttötung geführt.
Hinter der Krise steckt eine tragische Ironie: Schottlands Wohngesetze gehören zu den fortschrittlichsten der Welt. Jeder Obdachlose kann einen Antrag auf Wohnraum stellen. Und während der Bearbeitungszeit haben sie sogar das Recht auf eine temporäre Unterkunft.
Doch viele Menschen fallen durchs Raster - so auch Duffin: "Ich habe anderthalb Jahre gekämpft, um an den Papierkram zu kommen. Sechs Monate musste ich auf der Straße schlafen, um zu beweisen, dass ich obdachlos bin."
Für Shelter Scotland, eine führende Wohltätigkeitsorganisation für schottische Obdachlose, sind solche Fälle unverzeihlich: "Das Problem ist, dass es keinen Mechanismus gibt, mit dem die Regierung die Kommunen zur Einhaltung der Gesetze zwingen kann. Es müsste Sanktionen gegen die lokalen Behörden geben", sagt Graeme Brown, Geschäftsführer von Shelter Scotland, der DW.
Der Stadtrat von Glasgow räumte ein, die Obdachlosendienste der Stadt müssten sich "weiterentwickeln", wenn die Nachfrage weiter steige. Es wurde auch eine Initiative zur Beendigung der Obdachlosigkeit ins Leben gerufen. Das unmittelbare Ziel ist eine 75-prozentige Reduzierung der Obdachlosigkeit. Bis 2030 soll niemand mehr auf der Straße schlafen müssen.
Die schottische Regierung arbeite eng mit den lokalen Behörden zusammen, um die Situation zu verbessern, sagte Wohnungsminister Kevin Stewart der DW. Jedes Versäumnis der lokalen Behörden, ihre gesetzlichen Pflichten zu erfüllen, sei "absolut inakzeptabel".
Starke Worte - aber für Kevin Barry Duffin bleibt die Zukunft trostlos. Nach der letzten Überdosis bat er deshalb um einen Vermerk in seiner Krankenakte: "Nicht wiederbeleben".
"Warum sollte ich in so ein Scheißleben zurückkehren? Wenn ich bewusstlos bin, lasst mich gehen."
*Name geändert, um die Identität der Person zu schützen.