Neue Machtverhältnisse in Libyen
26. Oktober 2011Riadh Sidaoui stellt die Frage, die sich derzeit viele Libyer stellen. "Wie sollte man ein neues demokratisches Libyen aufbauen?" Der Politologe und Leiter des Arabischen Zentrums für politische und soziale Analysen in Genf gibt auch gleich die Antwort: "Es gibt viele Hindernisse, bevor der Traum der Libyer verwirklicht werden kann. Ein Hindernis ist die komplette institutionelle und politische Leere und die fehlende Zivilgesellschaft." Es existieren keinerlei politische Strukturen und keine Verwaltung. Alternative Parteien hatte Oberst Gaddafi nie zugelassen, aus Angst sie könnten ihm gefährlich werden.
In den vergangenen Monaten wurde das politische Geschehen Libyens vom Nationalen Übergangsrat bestimmt. Das etwa 40-köpfige Gremium sei ein äußerst heterogener Zusammenschluss, findet Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. "Innerhalb des Nationalen Übergangsrates gibt es ein breites Spektrum regionaler Gegensätze. Der Westen wurde massiv unterstützt von Gaddafi, der Osten wurde diskriminiert. Es gibt Rivalitäten zwischen den verschiedenen Stämmen. Es gibt ideologische Unterschiede. Das reicht von konservativ islamistisch, salafistisch, bis hin zu säkularen Vertretern, Sozialisten, Liberalen."
Einig im Feindbild, uneins in Sachen Zukunft
In ihrem Feindbild "Gaddafi" waren die kämpfenden Einheiten sich bis zum vergangenen Donnerstag (20.10.2011) noch einig. Darüber, wie die Zukunft aussehen kann, jedoch kaum. Der politische Fahrplan sieht zunächst vor, innerhalb von 30 Tagen eine Übergangsregierung aufzubauen. In den nächsten acht Monaten sollen die Libyer eine verfassungsgebende Versammlung wählen - Tunesien hat es am Wochenende vorgemacht. Dann ist der Weg geebnet für freie Parlamentswahlen. Doch auf wen soll sich das Land in Zukunft stützen? Wem vertrauen? "Ein Punkt, der in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen wird", erklärt Meyer, werde der Konflikt sein zwischen "Oppositionellen, die seit Jahrzehnten gegen Gaddafi gekämpft haben, die ihre Familienangehörigen verloren haben, die selber im Gefängnis waren, die ins Exil geschickt worden sind" und denjenigen, die unter Gaddafi bis zum Ende aktiv gewesen sind. "Das wird der entscheidende Konflikt sein, wenn es darum geht, die Stellen bei einer neuen Wahl zu besetzen."
Die widerstreitenden Interessen bekam bereits der jetzige Ministerpräsident des Übergangsrates, Mahmud Dschibril, zu spüren. Der in den USA ausgebildete Wirtschaftsfachmann war mehrere Jahre unter Gaddafi tätig, bis er die Seiten wechselte. Für Günter Meyer ein erstes Opfer, zerrieben im Machtkampf. "Er wird einerseits abgelehnt von den Liberalen, die ihm seine Nähe zu Gaddafi vorwerfen. Und er wird ebenso abgelehnt von den Islamisten, die in ihm einen Repräsentanten der USA sehen." Dschibrill hat bereits angekündigt, er werde einer nächsten Regierung nicht mehr zur Verfügung stehen.
Machtfaktor Stammesführer
Akteure mit hohem poltischen Einfluss werden auch in Zukunft die Stammesvertreter sein. Nicht allein die Kadhafa, die Gaddafi bis zuletzt die Treue hielten, werden ihre Rechte einfordern. Die rund 130 verschiedenen Stammesgruppierungen, seien von "Gaddafi geschickt gegeneinander ausgespielt worden. Aber das sind Dinge, die man regeln kann", sagt Meyer. Etwa über Anteile am Reichtum. Denn das Öl wird dem Land wohl die ökonomische Zukunft sichern.
Ein Signal, das der Westen mit Argwohn zur Kenntnis genommen hat, war die Ankündigung des Vorsitzenden des libyschen Übergangsrates, Abdel Dschalil, die islamische Rechtsprechung Scharia werde Basis für das künftige libysche Rechtssystem sein. Aus Sicht Sidaouis stößt diese Entwicklung nicht nur dem Westen bitter auf; es könnte auch für Libyen selbst zum Hindernis werden, meint er. "Die Probleme in der Zukunft werden eher von islamistischen Extremisten ausgehen als von den Gefolgsleuten Gaddafis", sagt Sidaoui, "die islamistischen Gruppierungen sind überall in Libyen präsent. Sie haben zwar an der Revolution teilgenommen, aber ein Teil von ihnen repräsentiert eine Bedrohung für die Demokratie in Libyen, weil sie einfach nicht an Demokratie glauben."
Das sei kein Grund zur Sorge, findet hingegen der Politologe Günter Meyer. Man müsse sich darauf einstellen, dass durch die Umwälzungen durchaus auch Kräfte an Einfluss gewinnen können, die einer Demokratie nach westlichem Vorbild auf den ersten Blick widersprechen. Libyen in fünf Jahren? "Es wird ein Libyen sein, das einen demokratischen, gemäßigten Islam repräsentiert und wo es Dank des Erdölreichtums möglich sein wird, innerhalb relativ kurzer Zeit die Infrastruktur des Landes zu verbessern und das Pro-Kopf-Einkommen zu steigern, die Ressourcen des Landes tatsächlich zu nutzen für die Verbesserung der Lebensverhätnisse in Libyen."Autorin: Stefanie Duckstein
Redaktion: Katrin Ogunsade, Martin Schrader