Kein Interesse trotz Spitzenkandidaten
21. Mai 2014Nur wenige deutsche Worte haben es geschafft, in anderen Sprachen verstanden oder gar als Lehnworte adoptiert zu werden. Nun gibt es mit dem Wörtchen "Spitzenkandidat" einen weiteren Begriff aus der deutschen Sprache im Englischen. Lautmalerisch ähnelt er, zumindest silbenweise, dem notorischen "Blitzkrieg". Es gibt eine weitere Parallele: Die Idee, Spitzenkandidaten für ganz Europa aufzustellen, hat viele schlichtweg überrumpelt.
Eine Wahl sorgt nur dann für die nötige politische Erregung, wenn sie mit der Machtfrage verbunden ist. Aus dieser richtigen Einsicht hatten europhile Parteistrategen von rechts bis links einen revolutionären Schluss gezogen: Der Europawahlkampf müsse so aussehen, als ob die Wähler diesmal die Königsfrage eines jeden demokratischen Gemeinwesens beantworten könnten: Wer soll den Laden in Zukunft führen? Wem geben wir die Macht?
Das Wahlergebnis interessiert kaum jemanden
Doch nun, nach vielen Fernsehduellen und Wahlarenen, nach Online-Foren und Twitter-Gewittern macht sich Ernüchterung breit. Die Wahlbeteiligung - jedenfalls messen das die Meinungsforscher überall in der EU - dümpelt aller Voraussicht nach vor sich hin. In dem einen oder anderen Land dürfte sie ein wenig steigen, andernorts noch weiter sinken. Ein tristes Nullsummenspiel.
Nur einer von fünf Deutschen, das ergab eine YouGov-Umfrage im Auftrag des Monatsmagazins "Cicero", ist gespannt darauf, wie die Europawahl ausgeht. Anders gesagt: 80 Prozent ist das mehr oder weniger egal. Der Mobilisierungseffekt durch die Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten? Verpufft.
Die EBU, das ist der genossenschaftliche Zusammenschluss aller öffentlich-rechtlichen Sender in Europa, hatte eine Debatte aller fünf Spitzenkandidaten organisiert. Die Sendung war inhaltlich bestens vorbereitet, der Austausch kontroverser politischer Positionen optisch ansprechend inszeniert. Dennoch war das Interesse eher mau. In Deutschland etwa schalteten gerade einmal 160.000 Zuschauer ein. Debatten über Europapolitik galten als "Quotenkiller".
Spitzenkandidaturen sind nur symbolisch
Parteistrategen suchen nun, mit dem Ende des Wahlkampfes, nach den Ursachen, warum die Kampagne nicht wie gewünscht funktioniert hat. These Nummer eins: Der Wahlkampf habe nicht europaweit kommuniziert werden können. Die Wähler im krisengeplagten Süden des Kontinents lassen sich nun einmal nicht mit den gleichen Parolen begeistern wie besorgte Nord-Europäer, die seit der Eurokrise um ihre Ersparnisse bangen. In dem einen Land gibt es die Tradition der Wahlplakate, in dem anderen ziehen Hausbesuche, im dritten sind es Flugblätter und Straßenwahlkampf.
Die beiden Top-Leute der großen Volksparteien - Jean-Claude Juncker für die Konservativen und Martin Schulz für die Sozialdemokraten - seien sich politisch zu ähnlich, These Nummer zwei. Beide sind in der Tat glühende Europäer, die für ihr gemeinsames Projekt, das politisch integrierte Europa, auch einmal fünfe gerade sein lassen und frei von ideologischer Prägung argumentieren. So ist das nun einmal in Europa.
In einigen wenigen Ländern waren die Spitzenkandidaten überaus präsent, in vielen anderen ein bisschen, in Großbritannien spielten sie überhaupt keine Rolle - auch das ein Ausdruck des vielleicht größten Missverständnisses dieses Wahlkampfs. Denn bei Lichte betrachtet sind die Spitzenkandidaturen rechtlich und politisch rein symbolisch. Die Machtfrage stellt sich nur indirekt.
Es gibt derzeit unzählige Planspiele in Brüssel, wer unter welchen Umständen anstelle der beiden Hauptbewerber Schulz und Juncker zum nächsten Kommissionspräsidenten gekürt werden könnte. Das wäre dann zweifellos ein "Betrug am Wähler", wie es schon heißt. Wobei fröhlich gestritten werden dürfte, wer ihn begangen hat: Diejenigen, die volles Risiko spielten und die virtuellen Spitzenkandidaten aufstellten; oder diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer eine andere EU-Spitze nominieren.
Bleibt das doppelte Fazit: Es gibt keinen richtigen Wahlkampf im falschen. Und die englische Sprache hat ein neues Lehnwort.